Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Dienstag, 15. Dezember 2015

TV


… ist in Tamil Nadu ein Phänomen, das ich in den letzten Wochen sehr intensiv kennengelernt habe.

Während draußen heftige Regenfälle über Thiruvallur niederprasselten, gefolgt von Überflutungen, die es oft unmöglich machten, das Haus zu verlassen, saß meine Familie vor dem Fernseher – 24 Stunden am Tag. Über den Bildschirm flimmerten alte Schwarzweißfilme, Romanzen, Serien und Casting Shows. Grund genug, das tamilische Fernsehen einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Jeden Abend wird um etwa sieben Uhr auf den TV-Sender Vijay geschaltet. Dort läuft einen Monat lang die Geschichte der Mahabharata, eines der Epen des Hinduismus, aufgebaut als Serie. Es geht um den großen Krieg zwischen Gut und Böse vor Anbruch eines neuen Zeitalters. Die Stimmung ist entsprechend ernst. Hält ein König eine halbstündige Rede, wird diese in ihrer vollen Länge mit Nachdruck ausgestrahlt. Einstündige Trauer nach Tod eines tapferen Helden ist ebenfalls nicht unüblich.

Im Anschluss an die Mahabharata läuft, wie als Kontrastprogramm, Super Singer 5, eine Casting Show, die stark an ähnliche Formate in Deutschland erinnert. Alle Lieder sind bekannt, sodass mindestens ein Familienmitglied lautstark mitsingt. In den Pausen diskutiert man über den Sari der Moderatorin oder das Aussehen eines Teilnehmers. Der Vorteil dieser Sendung: Es sind nahezu keine Tamil Kenntnisse notwendig um sie zu verstehen. Als sie einen Abend aussetzte, habe ich mich doch tatsächlich dabei erwischt, sie zu vermissen.

Der Rest des Tages wird gefüllt von Filmen, Serien und Musiksendungen, zwischen denen lebhaft hin- und her gezappt wird. Versammelt sich gerade noch eine Großfamilie schluchzend um das Krankenhausbett der Mutter, streitet im nächsten Moment eine Tochter mit ihrem Vater unter Tränen über ihre arrangierte Hochzeit. Frage ich meine Gastschwester nach der Handlung, lautet die Antwort stets ähnlich: „Ein Junge und ein Mädchen verlieben sich, aber ihre Familien verbieten es ihnen, zusammen zu sein. Schließlich heiraten sie doch.“ Schnief!

(Ein Cousin, der uns eine Zeit lang besuchte, führte Kricket in das tägliche Fernsehprogramm ein. Ich hoffe, er kommt wieder!)

Tatsächlich jedoch haben die tamilischen Sendungen mehr Einfluss auf mich, als ich mir anfangs eingestehen wollte. Der Grund, warum ich begonnen habe, die 2000 seitige Mahabharata zu lesen, ist simpel: Ich wollte endlich das Fernsehprogramm verstehen.

Sonntag, 29. November 2015

Aadi Anant


… ist nicht tamilisch, sondern Sanskrit und bedeutet „von hier in die Ewigkeit“. Es ist zugleich der Titel einer Konzertreihe, die zurzeit in verschiedenen indischen Großstädten, darunter Chennai, stattfindet.

Die klassische Musik Nordindiens basiert auf der Guru-Shishya Tradition, der Weitergabe vom Wissen eines Lehrers an seinen Schüler.  Dies geschieht seit über 1000 Jahren mündlich. Musik umfasst dabei sowohl eine weltliche, als auch eine spirituelle Ebene. In seinem Spiel sucht der Musiker Kontakt zu Gott und vergisst dabei mitunter sogar, dass er musiziert.

Im Auditorium der Chennai Music Academy trat Tabla Virtuose Usthad Zakir Hussain gemeinsam mit dem Bansuri Spieler Rakesh Chaurasia auf. Die Tabla, als Trommel traditionell eher zur Begleitung genutzt, gewinnt in der heutigen Zeit als Soloinstrument an Bedeutung.

„Willkommen meine Damen und Herren! Freuen sie sich auf ein Konzert des Meisters auf der Bansuri Flöte Rakesh Chaurasia!“, eröffnete Zakir Hussain, der eigentliche Hauptmusiker, das Konzert. Was folgte, lässt sich am ehesten mit dem Wort „UNGLAUBLICH“ beschreiben. Die Darbietung bestand aus drei Kompositionen mit jeweils Raum für Improvisation. Rakesh Chaurasia eröffnete das Konzert mit einem Bansuri Solo, dessen Tempo und Lautstärke sich auf ein Niveau steigerten, das dem Musiker auf einer solchen Flöte wahre Virtuosität abverlangt. Der Hauptteil jeder Komposition bestand aus dem sehr energiegeladenen  Zusammenspiel beider Künstler, dem schließlich ein Tabla Solo Zakir Hussains folgte.

Ich erinnere mich an den Versuch, mit meinem Blick den Handbewegungen des Trommlers zu folgen. Es war unmöglich. Zakir Hussain gilt zudem als Meister der Improvisation, der gerne Einflüsse fremder Kulturen verarbeitet. Inmitten seines Spiels ging die Melodie plötzlich nahtlos in „Always look on the bright side of life“ über und wechselte genauso fließend wieder zu den traditionellen Rhythmen zurück, als sei nichts gewesen.

Mein Fazit? Ich habe selten ein Konzert erlebt, das den Standup am Ende mehr verdient hat als dieses. Der Abend war eine Mischung aus Tradition und Moderne, aus wahrer Kunst und gleichzeitig viel Humor. Zakir Hussain erklärte einmal, dass in seinen Stücken  das Wissen seiner Lehrer direkt zu finden sei, er aber gleichzeitig fremde Einflüsse verarbeite und seine Musik so stetig weiterentwickle. Das ist der Hauptgedanke der Guru – Shishya Tradition: Von hier in die Ewigkeit.

Montag, 23. November 2015

Male


…ist das tamilische Wort für Regen. Davon gab es in Tamil Nadu in den letzten Tagen so  viel wie in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr.

Als für diesen Winter das Wetterphänomen El Niño vorhergesagt wurde, hatte mich die Nachricht wenig beeindruckt. Was war schon eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Zyklone im indischen Ozean?

Fünf Zyklone und eine Tsunamiwarnung später wird mir bewusst, worauf man sich bei einer solchen Vorhersage einzustellen hat. Chennai befindet sich zurzeit auf Tauchgang. In manchen Straßen steht das Wasser knietief, in anderen wiederum hüfthoch-abhängig von der Lage des jeweiligen Stadtteils. Die Schulkinder freuen sich über mindestens zwei Wochen „Regenfrei“ und auch ich hatte einigen zusätzlichen Urlaub, als sich das Treppenhaus unseres Büros spontan in einen Wasserfall verwandelte.

Während ich jedoch das Glück habe, im hoch gelegenen Thiruvallur zu wohnen, sah es bei meinen zwei Mitfreiwilligen noch einmal anders aus: Nachdem in ihrem Dorf der Damm geöffnet wurde, war es ihnen für eine Woche nicht möglich, das Haus zu verlassen, da an Stelle der Straße nun ein Fluss zu finden war. Der örtliche See kam so weit über die Ufer, dass man in ihrem Garten hätte fischen können.

Es ist jedoch ein Irrtum, zu glauben, dass sich durch das Wetter der Straßenverkehr in Chennai nennenswert reduziert hätte. Kommt in der Flut ein sitzender Mann vorbei, liegt die Vermutung nahe, dass sich unter ihm auch irgendwo ein Motorrad befindet, welches aber unter dem Wasser nicht mehr sichtbar ist.

Die Bilanz der letzten Wochen: 120 Tote und weiterhin teilweise starke Regenfälle und Überschwemmungen. Und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass solche Winter bald häufiger vorkommen werden. Hallo Klimawandel, wir kommen!

Sonntag, 1. November 2015

Cuvar


…ist tamilisch für Mauer. Eine solche scheint in Indien stets zwischen den Geschlechtern zu stehen.

Wer in den letzten Jahren die Nachrichten verfolgt hat, kennt den Fall der vergewaltigten Studentin aus Neu Delhi, der ein trauriges Licht auf die Situation von Indiens Frauen warf. Was für eine Realität hinter diesen Schlagzeilen steht, habe  ich seit meiner Ankunft oft genug erfahren. Ich möchte hier drei Geschichten erzählen, die einer Inderin, die eines Inders und schließlich meine eigene, um diesem hier so schwierigen Thema etwas näher zu kommen.

Meine Gastschwester will nicht heiraten. Ihre Familie sucht in der Bekanntschaft, wie auf Heiratsportalen im Internet nach dem richtigen Mann für sie, dem Mann, dessen Horoskop mit ihrem zusammenpasst, der einen guten Job hat und viel Geld verdient und obendrein auch noch gut aussieht. Dem Mann, den sie vor der Hochzeit nur ein paar Male treffen wird, der ihr vielleicht ihre gesamte Freiheit nehmen wird und den sie vielleicht nie lieben wird, der eventuell aber auch der richtige Partner fürs Leben sein könnte. Sie weiß es nicht, kann es nicht wissen. Daher kämpft sie wie eine Löwin darum, diese Ehe nicht eingehen zu müssen. Die Liebe in der arrangierten Ehe scheint ein Traum zu sein, der schon seit langem aufgegeben wurde.

Mein indischer Mitarbeiter hat mehr Glück. Seine Freundin lebt in Bangalore, er liebt sie und trifft sie wann immer er kann. Das Paar plant zu heiraten, mit dem Segen beider Familien, obwohl sie verschiedenen Religionen angehören. Er ist stolz auf seine Freundin und erzählt gerne von ihr, wie auch von den Partys, die er jedes Wochenende besucht und auf denen getanzt wird. Umso erstaunter war ich über seine plötzliche Verlegenheit, als ihn eine spanische Freiwillige aus Spaß zum Tanz aufforderte. „Actually, I never danced with a girl“, erzählte er mir später. “I didn´t tell you that at our parties, there is only boys.”

Ich als Europäerin habe bei dem Thema eine wieder andere Rolle. Auf meinem Weg durch Thiruvallur schreien mir täglich junge Inder von ihren Motorrädern aus anzügliche Sprüche hinterher. Es  kann passieren, dass in dicht gedrängten Mengen, etwa in überfüllten Bussen, plötzlich eine Hand auftaucht, deren Besitzer man nicht zuordnen kann und von der man an Stellen berührt wird, an denen man nicht berührt werden möchte.  In Chennai stelle ich manchmal fest, dass ich von unbekannten Männern verfolgt werde, sie stehen am Bahnsteig neben mir, laufen mit mir mit und starren mich an. Ich bin sehr dankbar für die Existenz der Ladies Compartments in den Regionalzügen, aber es ist traurig, dass sie nötig sind. Die Situation verändert einen, sie führt zu einem Grundmisstrauen gegenüber jedem. Zu entscheiden, wann dieses  tatsächlich angebracht ist und wann nicht, ist nicht immer möglich. So sehr ich Indien liebe, der Umgang der Geschlechter miteinander ist die größte Herausforderung, der ich mich hier stellen muss.

Dienstag, 27. Oktober 2015

katai puttakam


…ist das tamilische Wort für Bilderbuch. In diesem  Beitrag soll es um Indien wie aus dem Bilderbuch gehen, das ich für etwa zwei Stunden in der Stadt Mysore erleben konnte. Hier feiert man das Ende des zehntägigen hinduistischen Festivals Navarathri auf besondere Weise. Es findet eine Parade statt, beginnend am alten Palast des Maharajas und weiter durch die Hauptstraßen an deren Rändern die Menschen dicht gedrängt in allen möglichen und unmöglichen Positionen stehen um zuzusehen.  Ihr Ablauf erinnert an ein besonders kitschiges Märchen, weshalb ich ihn in genau dieser Form beschreiben will.

Es war einmal  vor hunderten von Jahren ein König, der beschlossen hatte, am letzten Tag des Navarathri-Festes eine große Versammlung in seinem Palast abzuhalten zu der auch das Volk Zugang haben sollte. Sie sollte zu Ehren der Göttin Durga stattfinden, die den Dämonen Mahishasur besiegt hatte. Im Laufe der Jahre wandelte sich  die Tradition hin zu einer Parade, die jährlich für die Bewohner Mysores organisiert wird, jedoch nichts von dem königlichen Glanz der alten Tage entbehrt.

Sämtliche Musik- und Tanzgruppen der Stadt geben in diesen zwei Stunden in ihren aufwendigsten Kostümen ihr Bestes,  sie verkörpern von edlen Prinzen bis hin zu wilden Dämonen und Tigern alles nur Erdenkliche. Ihnen folgen kunstvoll gestaltete Wagen verschiedener Themenbereiche. Polizei, Sanitäter, Tempel , Schulen und Politik lassen ihrer Kreativität in der Gestaltung dieser Fahrzeuge freien Lauf. Im Vorbeifahren werden auf ihnen Verbrecher verhaftet, Kinder unterrichtet und mit Gandhi für Indiens Unabhängigkeit demonstriert.

Zu Ende der Parade kommt es schließlich zum Höhepunkt, dem Auftritt lokaler Berühmtheiten der besonderen Art: über zehn bunt geschmückte Elefanten, der Bevölkerung mit Namen bekannt, sind Teil des Umzuges. Einem von ihnen, dem Bullen Abu, kommt die ehrenvolle Aufgabe zu, die Göttin Kali in einer Sänfte aus purem Gold durch Mysores Straßen zu tragen. Prinz und Prinzessin reiten auf dem Pferd voraus.

Wenig später kehrt die Stadt wieder zur Realität zurück. Das royale Paar setzt seinen Rechtsstreit über den Besitz des Palastes fort und die Elefanten kehren zurück zu ihren Käfigen und den Trainingsmethoden ihrer Mahouts. Die Tänzer und Musiker beginnen erneut mit der Vorbereitung eines Auftritts – damit Mysore auch nächstes Jahr für kurze Zeit in märchenhafter Pracht erstrahlen kann.

Donnerstag, 8. Oktober 2015

Kuppai


…ist das tamilische Wort für Müll. Dass Indien mit diesem ein Problem hat, ist allseits bekannt. Mich jedoch haben die Berge aus Abfall, vor allem der, der sich unter unserem Fenster türmt, vor ein paar Tagen in besondere Verlegenheit gebracht.

Der Termin der UN-Klimakonferenz in Paris rückt näher, ein Treffen, in das große Hoffnung gesetzt wird, die Welt zu einem bindenden Abkommen über Klimaschutz zu bringen. Indien kommt dabei die traurige Rolle des weltweit viertgrößten Klimasünders zu. Chennais brennende Müllberge tragen ihren Teil dazu bei.

Anlässlich der kommenden Konferenz starteten wir im Projekt die Aktion „Green Ribbon“ um das Bewusstsein indischer College-Studenten für Umweltschutz zu stärken. Unter dem Motto „One Ribbon. One Promise not to litter.” soll das Versprechen gegeben werden, Abfall stets in den richtigen Mülleimer zu entsorgen. Im Gegenzug wird die grüne Umweltschleife, ähnlich ihrem roten Kollegen für HIV, verteilt.

Zum Verhängnis wurde uns, wie so häufig, der berühmt-berüchtigte Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In Thiruvallur existieren weder Müllabfuhr noch Recyclingbetriebe. Fällt bei meiner Gastfamilie Abfall an, wird er vom Dach geworfen und trägt zu dem bereits erwähnten Müllberg unter meinem Fenster bei. Hat dieser eine gewisse Größe erreicht, wird er angezündet um daraufhin erneut wachsen zu können.

Als ich schließlich mit meiner grünen Schleife nach Hause kam, bemerkte ich eine volle Tüte Abfall, die dringend entsorgt, in anderen Worten: dringend vom Dach geworfen gehörte. Aufgrund unserer Aktion früher am Tag meldete sich mein schlechtes Gewissen an diesmal besonders stark, als ich mein Vorhaben überdachte. Schließlich zog ich die grüne Schleife aus und warf die Tüte dann hinunter auf den Müllberg. Als ob das irgendetwas besser machen würde.

Donnerstag, 24. September 2015

Tourist


…ist ein Wort, das ich absichtlich nicht übersetze, eben weil es eine gewisse Fremdheit ausdrückt. Laut Lexikon ist ein Tourist „jemand, der als Urlauber ein Land besucht“.

Zuweilen habe ich den Eindruck, dass das Wort auch ein Schimpfwort ist. Es beinhaltet den stillen Vorwurf, nichts als ein oberflächlicher Beobachter, oder schlimmer, ein Ignorant, dem allein der eigene Spaß wichtig ist, zu sein. Tourismus hat immer zwei Seiten. Er kann einem Ort zu Reichtum und Berühmtheit verhelfen, er kann ihn jedoch auch zerstören und so verändern, dass er nichts mehr mit dem Land in dem er liegt, zu tun hat.

Ich habe vor einiger Zeit einen Ort namens Mahabalipuram kennengelernt. Er ist sehr pittoresk an der Ostküste Südindiens gelegen und besitzt einen kilometerlangen Traumstrand. Läuft man durch die Straßen des Ortskerns, begegnet man einer Menge weißer Europäer, manche in Shorts und Top, andere in einer Art gespensterartigem Gewand, das leicht an Indien erinnert (in dem ich aber noch nie einen Inder habe herumlaufen sehen). Zu beiden Straßenseiten findet man die entsprechenden Läden, in denen ein solches Gewand, oder wahlweise auch Steinelefanten oder Sonnenhüte, zu haben sind. Ich frage mich, wie viele dieser Menschen nach ihrem Aufenthalt der Meinung sind, Indien gesehen zu haben. Oder, wie viele der Besucher, enttäuscht von den Touristenmassen, weiterziehen um einen anderen, „originalen“ Platz zu finden. Denn danach scheint der westliche Tourist  häufig zu suchen: „dem wirklichen Indien“. Auch ich habe gehofft, mit meinem Aufenthalt hier dieses Ziel zu erreichen und muss nun zugeben, dass ich damit genauso scheitern werde, wie der europäische Durchschnittsurlauber, eben weil es unmöglich zu bestimmen ist, was „indisch“ ist und was nicht. Ich sage das als Deutsche, die sich nicht sicher ist, „das wirkliche Deutschland“ zu kennen.

Ich möchte hier von einem anderen Ort erzählen, dem in den Nilgiri Mountains gelegenen Ooty. Anders als in Mahabalipuram tummeln sich hier vor allem indische Touristen. Die „Suche nach dem Original“ scheint ihnen fremd zu sein. Stattdessen werden an den wichtigen Sehenswürdigkeiten Selfies mit der ganzen Familie gemacht, die stolz ihre am Touristenstand am Straßenrand gekauften Wollmützen präsentiert. Danach kauft man sich eventuell noch Popcorn oder Zuckerwatte und fährt zum nächsten Punkt für das nächste Selfie (gerne auch mit einem Europäer, wenn man einen trifft). Indische wie westliche Touristen verändern die Ziele, die sie frequentieren, weshalb man sie gerne mit gemischten Gefühlen betrachtet.

Meiner Ansicht nach gibt es jedoch eine Eigenschaft, die oft als touristisch gilt, die aber im Alltag nicht verloren gehen sollte: Die stetige Neugier auf bisher Unbekanntes, die dazu führt, dass man mit offenen Augen durch die Welt läuft. So sehr man manchmal über die Touristen schimpft, so viel kann man von ihnen lernen.

Donnerstag, 17. September 2015

Ganesh Chaturthi


… wurde heute von einem Großteil der Inder gefeiert. Es ist das Fest des elefantenköpfigen Gottes Ganesha, dem Sohn von Shiva und Parvati. In Thiruvallur finden heute Prozessionen und Feuerwerk statt und überall in den Straßen hört man Musik.

Meine Familie besorgte heute früh eine aus Ton geformte Statue Ganeshas, die daraufhin sorgsam mit Gold und Blumenketten geschmückt wurde. Währenddessen bereitete meine Gastmutter ein sehr aufwendiges Essen vor, das unter anderem aus mit Sesam gefüllten weißen Teigtaschen bestand, die nur für diesen Anlass vorbereitet werden. Wie die meisten Götter isst Ganesha gerne Süßigkeiten.

Die Speisen wurden schließlich auf einem Bananenblatt vor dem Altar aufgebaut. Der wichtigste Teil des Festes bestand schließlich aus den Gebeten, die meine Gastschwestern aus einem kleinen Büchlein vorlasen. Sie dienen dazu, Ganesha für seine Taten zu danken. Während den Gebeten wurden eine Glocke geläutet und Lampen angezündet.

Schließlich aßen auch wir alle zusammen auf Bananenblättern. Viele der Gerichte werden nur sehr selten zubereitet und sind etwas Besonderes. Als wir so beim Essen saßen, warf meine Gastschwester einen Blick auf den Altar mit der Statue, betrachtete die Menge an Früchten, Teigtaschen und Süßigkeiten, die wir dort aufgebaut hatten und meinte: „Ganesha must be really full now!“ Aber schließlich ist er ja auch ein Elefant…

Dienstag, 8. September 2015

Vanakkam Chennai


…bedeutet in etwa „Hallo Chennai“ und ist gleichzeitig der Titel eines tamilischen Comedy Films, dessen Handlung zum einem großen Teil von Missverständnissen und Chaos geprägt ist, in dem aber die beiden Hauptcharaktere letztendlich zueinander finden. Im übertragenen Sinne charakterisiert dies meine Beziehung zu der Stadt sehr gut.

Ich habe Chennai vor ein paar Tagen kennengelernt und es war wie im Film Liebe auf den zweiten Blick. Als ich in Chennai Central aus dem Zug stieg, war mein erster Gedanke: CHAOS! Ich stand alleine mitten in dieser Riesenstadt, wollte zum Government Museum in einem anderen Viertel und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich dorthin gelangen sollte. Der Weg, der im Reiseführer den Eindruck erweckt hatte, er sei zu Fuß gut zu bewältigen, stellte sich relativ schnell als Schnellstraße ohne Gehweg heraus. Als ich schließlich in einer völlig überteuerten Autorickshaw am Museum ankam, zeigte mir die Stadt zum ersten Mal eine ihrer guten Seiten: Die dortige Sammlung  teilweise über tausend Jahre alter hinduistischer Skulpturen ist hervorragend.

Das Glück hielt nicht an. Auf dem Rückweg saß ich nach den widersprüchlichen Angaben fünf verschiedener Menschen, welche Bahnverbindung richtige sei, im falschen Bahnhof, was die Dauer der Rückfahrt  ungefähr verdoppelte.

Am nächsten Tag beschloss ich dennoch, Chennai eine zweite Chance zu geben. Im Zug mir gegenüber saß ein junges Mädchen. Sie erzählte mir von ihrem Bruder, der in Schweden studiert, zeigte mir mit ihrem Handy Fotos von jedem Zimmer seines schwedischen Hauses und brachte mich auf meine Frage hin direkt zum richtigen Bus nach Marina Beach, den ich ohne ihre Hilfe niemals gefunden hätte. Nach einem ausgiebigen Strandspaziergang und einem Treffen mit Freunden aus Deutschland in einer der klimatisierten Malls der Stadt machte ich mich glücklich auf den Weg nach Hause, als ich mich plötzlich alleine in der Dunkelheit an einem mir unbekannten Ort wiederfand. Dies war eine Situation, die ich vom Vortag kannte und die nichts Gutes verhieß…

„Excuse me madam, where are you going?“ Meine Rettung war nur wenig älter als ich, arbeitete bei Mercedes Benz und musste in dieselbe Richtung. Sie brachte mich zum Zug und passte auf, dass ich zu meiner Sicherheit im Ladies Coach reiste.  Ich habe in diesen zwei Tagen etwas gelernt: In Chennai braucht man vor allem eines: Freunde!

Dienstag, 1. September 2015

Karpittal Kattral


…bedeutet so viel wie „Lehren und Lernen“. Dieser Ausdruck eignet sich hervorragend um die Arbeit in meinem Projekt zu beschreiben.

Ich unterstütze während meiner Zeit in Indien das Model Village Project, das in den Dörfern der Umgebung von Chennai aktiv ist. Meine Aufgabe ist es, in den umliegenden Schulen Sessions im Bereich „Gesundheit und Ernährung“ zu geben. Ich habe einmal ein Sprichwort gelesen, das lautete: „Lehren ist die höchste Form des Verstehens“. Wie viel Wahrheit darin steckt, habe ich in den letzten Wochen festgestellt, denn aus jeder Stunde, die ich vorbereite, lernen die Schüler und ich gleichermaßen.

Da wäre natürlich einmal der Inhalt der Präsentationen. Wie wäscht man sich richtig die Hände? Woraus besteht eine gesunde Ernährung? Was ist Recycling und warum macht Verschmutzung durch Müll krank? Ich hoffe natürlich, dass die Kinder davon etwas in Erinnerung behalten. Auch ich selbst erfahre dabei immer wieder Neues. Wie verfährt man in meiner Gegend mit Abfall? Was unternimmt man  hier gegen Fieber? Welche lokalen Lebensmittel sind gesund, bzw. was essen die Kinder für Süßigkeiten? All das muss ich berücksichtigen, wenn ich über diese Themen sprechen will.

Neben der inhaltlichen Seite gibt es dann noch die hintergründigen Dinge. Ich habe vor ein paar Monaten mein Abitur gemacht und noch nie in einer Klasse unterrichtet. Das erste, das ich lernen musste war, trotz Sprachbarriere die Aufmerksamkeit der Schüler zu gewinnen und sie in das Thema einzubeziehen. Im indischen Schulsystem basiert ein Großteil des Unterrichts auf Auswendiglernen, sodass Aktivitäten eher selten sind. Welche Spiele funktionieren und welche Themen interessant sind, ist eine Frage, die zu beantworten mich noch Zeit kosten wird.

Einer meiner indischen Mitarbeiter hat den Traum, einmal eine Schule zu errichten, in der die Schüler zu selbstständigem Denken erzogen werden und sich durch praktische Arbeit den Themen nähern sollen. Er hofft, dass eine solche Erziehung im Gegensatz zu den heute in den Schulen praktizierten Lehrmethoden den Kindern ein glücklicheres Leben ermöglicht. Ich wünsche ihm viel Erfolg.

 

Montag, 24. August 2015


Matham

… ist das tamilische Wort für Religion. Diese habe ich in einem indischen Dorf in sehr lebendiger Form miterleben dürfen.

Im hinduistischen Monat Aadi finden in den Dörfern in der Umgebung von Chennai der Göttin Amman gewidmete Festivals statt, bei denen Gläubige über glühende Kohle gehen um ihre Treue zu Gott unter Beweis zu stellen. Im Heimatdorf meiner Gastfamilie geschah dies letzten Sonntag und ein verwandter Junge nahm daran teil. Ich will versuchen, den Abend zu beschreiben.

Am späten Nachmittag trafen wir uns an einem Sammelplatz um die Teilnehmer für ihre Aufgabe vorzubereiten. Ihre Körper wurden mit gelber Paste eingeschmiert um sie herunter zu kühlen und auf dem Kopf und um den Hals trugen sie Blumenketten. Außerdem hielten viele ein paar Zweige des Neembaums in der Hand, die heilende Wirkung haben. Gegen sechs Uhr begann aus hinduistischer Sicht die günstige Zeit des Tages. Wir ließen die Teilnehmer am Sammelplatz zurück und fuhren zum eigentlichen Ort des Geschehens, wo bereits ein Feld heißer Glut vorbereitet war. Das ganze Dorf war mit Lichtinstallationen und bunten Lampions geschmückt. Als schließlich die Prozession der Teilnehmer, begleitet von Feuerwerk und Trommeln, eintraf, begannen die Zuschauer laut „Govinda! Govinda!“ zu rufen, um das Interesse Gottes auf das Geschehen zu lenken. Schließlich liefen die teilnehmenden Männer grüppchenweise über die Glut. Ich muss sagen, dass mich das persönlich sehr beeindruckt hat, denn die meisten spazierten durch das glühende Feld, als liefen sie über Rollrasen. Als wir unseren Verwandten nach Ende des Festivals befragten, erzählte er, er habe die Hitze nicht gespürt.

Für mich war dieser Abend eine sehr einzigartige Erfahrung lebendiger Religion  und ich bin sehr dankbar, dass ich ihn erleben durfte!
Gang über die Glut
Lichtinstallation der Göttin Amman

Kolam

Mittwoch, 19. August 2015


Payanam

…ist das tamilische Wort für Reise. Mit diesem Überbegriff lassen sich meine ersten Tage in Indien eigentlich sehr gut beschreiben.

Das Flugzeug:

Mit ihm bin ich nach ca. neun Stunden Flug in Bangalore angekommen. Mein erster Eindruck von der Stadt ist natürlich, wie alles was ich hier schreibe, ein sehr subjektiver. Vieles war neu für mich, allen voran die erste Übernachtung auf einer Matte auf dem Dach des Head Office von FSL India. An meinem ersten Tag in Indien kam ich vor wie ein Kind, das alles ausprobiert, sich aber noch nicht so wirklich zurechtfindet. Aus Deutschland hatte ich tausend Ratschläge im Kopf: Worauf man beim Kauf von Wasser achtet, durch welche Straße man besser nicht läuft, an welchem Stand man kein Obst kauft, etc… Ich bin immer noch dabei, herauszufinden, welche dieser Regeln wirklich nützlich sind.

Der Zug:

Der erste Tipp, den ich über Bord warf, stammte aus meinem Reiseführer: „Reisen Sie nicht in der Sleeper Class.“ Mein Tipp: Vergessen Sie den Reiseführer! Meine erste lange Zugfahrt ging von Bangalore aus nach Kundapura an der Westküste für eine Woche Einführungsseminar. Und zwar selbstverständlich im Sleeper. Glaubt man unseren indischen Koordinatoren, ist diese Klasse sicherer als der klimaanlagengekühlte AC 2 Tier, eben weil jeder damit fährt. When in India, do as the Indians do…

 Ein Erlebnis ist der Zug allemal. Nach jedem Stop brüllt ein Verkäufer ungeachtet der Uhrzeit lautstark: “Chai! Coffee! Samosa!“ durch den Waggon. Ein Ratschlag den Sleeper betreffend hat aber tatsächlich Hand und Fuß: Wenn man seine Ruhe will, bucht man die obere Liege.

Der Bus:

Diese Sektion müsste unterteilt werden in Reisebus und Linienbus. Mit dem Reisebus waren wir Freiwilligen während unserer Zeit in Kundapura öfters unterwegs. Wie fast alles in dieser Woche war er von FSL organisiert. Die längste Fahrt ging zu den weltberühmten Jog Falls, als Teil einer Exkursion. Sie war begleitet von lauter Bollywoodmusik und Tänzen im Gang. Die Einführung in Kundapura bot jedoch weit mehr als das: Wir bekamen praktische Informationen, lernten Freiwillige aus aller Welt kennen und konnten langsam in die indische Kultur hinein schnuppern. Ich kann nur sagen: Danke für diese Zeit!

Den Linienbus lernte ich kennen als ich mit einer Mitfreiwilligen und meiner Gastschwester zum ersten Mal ins Projekt fuhr. Die Herausforderung ist, herauszufinden, was wohin fährt. Ich hatte inzwischen meine Familie kennengelernt, bestehend aus den Gasteltern und zwei Töchtern. Ich teile mir ein Zimmer mit einer weiteren Freiwilligen aus demselben Projekt. Mein genereller Eindruck? Ich bin bei sehr netten Menschen gelandet und freue mich, das Leben in meiner neuen Heimat Thiruvallur kennenzulernen! Mit dem Linienbus fahren klappt schon J

Die Autorickshaw:

Wird für mich ewig ein Phänomen bleiben. Wie viele Menschen mit Gepäck passen in ein Tuk Tuk? Irgendwo findet sich immer noch ein Plätzchen. Dasselbe gilt für Motorräder.

Sonntag, 26. Juli 2015

Nan poyttu varren

...ist eine tamilische Verabschiedungsformel und bedeutet wörtlich übersetzt "Ich gehe und komme wieder". Im Tamil hat die reine Ankündigung, zu gehen etwas Endgültiges; sie bedeutet so viel wie sterben. Der Zusatz, dass man wiederkommen wird, ist daher essentiell.
Auch ich gehe und komme wieder. In genau sechs Tagen steige ich mit meinen (ganz tollen) Mitfreiwilligen in den Flieger nach Bangalore um dann ein Jahr lang das Model Village Project in der Umgebung von Chennai zu unterstützen und hoffentlich eine Menge wertvolle Erfahrungen zu machen.
Hinter mir liegen eineinhalb Monate Privatstunden in Tamil, zwei Vorbereitungsseminare, unendlich viele Besorgungen und ebenso viele Arztbesuche - und eben eine Menge Abschiede. Der Zusatz "Ich komme wieder" ist hier mehr als tröstlich - sowohl für die Daheimgebliebenen als auch für mich. Die Antwort darauf lautet übrigens: "ninkal poyttu vankal!"; "Gehen Sie und kommen Sie wieder!". Man lässt den anderen gehen und freut sich auf seine Rückkehr. Ich finde, das klingt optimistisch.

In diesem Sinne:

nan poyttu varren!