…oder
warum es mir nicht möglich ist, einen ruhigen Tag im Park zu verbringen.
Ich
saß im Frühstücksraum eines Touristenhotels in Agra, neben mir ein Paar aus Kanada,
das aufmerksam das Etikett einer indischen Wasserflasche studierte. Neben
den Angaben über den Gehalt an
Mineralien fand sich die Anweisung, die leere Flasche zu zerstören. Das Paar
lachte ungläubig auf und bemerkte sarkastisch, dass es nicht „recycle the
bottle after use“ lautete und dass Indien in seinen Ansichten doch sehr anders
sei als ihr Heimatland. Am Nebentisch wunderte ich mich, ob ich ihnen den Grund
für die Anweisung erklären sollte – Leere Flaschen werden in Indien oft mit
Flusswasser gefüllt und erneut verkauft – ließ es dann aber und wandte mich
wieder meinem Frühstück zu.
Das
Erlebnis hatte mir jedoch zu denken gegeben, stellte es doch ein hervorragendes
Beispiel für interkulturelle Missverständnisse dar. Vorurteile gegenüber
fremden Ländern und deren Bewohnern existieren überall auf der Welt. Während
Indien in Europa oft als chaotisch und schmutzig gesehen wird, gelten
hellhäutige Ausländer in Indien als moralisch locker, reich und unnahbar.
Häufig hatte ich selbst mit diesen Vorurteilen zu kämpfen, etwa wenn sich
Menschen nicht trauten, mit mir zu sprechen oder Männer mir obszöne Sprüche
nachriefen. Ich will eine dieser Gelegenheiten erzählen, die mir die
Komplexität kultureller Differenzen deutlich vor Augen hielt.
Ich
saß auf einer Bank in Lalbagh, dem Botanischen Garten von Bangalore, und las
ein Buch. Auf dem Weg vor mir spazierten Menschengruppen vorbei, Familien,
Paare, College Studenten, Senioren. Schließlich ließ mich ein paar Füße
aufblicken, das direkt vor meiner Bank stehengeblieben war. Es gehörte der
Tochter einer vorbeigehenden Familie, die sogleich den Rest ihrer Verwandten
herbeirief. Schließlich stand die ganze Familie um mich herum, starrte mich
wortlos an und studierte aufmerksam mein Buch. Nachdem ich mich einen Moment
gewundert hatte, bat ich sie zu gehen und mich in Ruhe lesen zu lassen, da ich
es nicht als sehr höflich empfand wie ein Zootier behandelt zu werden. Als sie
sich entfernten, hörte ich aus ihrer Unterhaltung deutlich das Wort „Westerner“
heraus. Der Gedanke, dass ich in einem Land, das mir wie mein Zuhause vorkommt,
nicht wie alle anderen unbehelligt im Park sitzen kann, ärgerte mich. Kurz
darauf kam eine Gruppe junger Männer vorbei, die mir laut „Hi Madam!“ zuriefen
und lachten, gefolgt von einem älteren Ehepaar, das mich mit einem langen
missbilligenden Blick bedachte. Ein paar ähnliche Vorfälle später war ich
bereit, dem nächsten, der mich belästigte, meine Tasche über den Kopf zu hauen,
als ich auf eine Gruppe Mädchen aufmerksam wurde, die kichernd auf der Bank
neben mir saßen und offensichtlich beratschlagten, ob sie mich ansprechen
sollten. Schließlich bat mich eine von ihnen schüchtern um ein Taschentuch,
nahm es entgegen und rannte kichernd zu ihren Freundinnen zurück, die sie mit
den Worten „I don´t know you! What did you ask her?“ empfingen. Ich überlegte,
ob ich zu ihnen gehen sollte um zu erklären, dass ich kein Monster sei, vor dem
man Angst haben müsste, erinnerte mich dann aber meines früheren Ärgers und
ließ es sein.
Hier
liegt die zerstörerische Kraft gegenseitiger Vorurteile: Existieren sie einmal,
bestärken sie sich selbst. Indem ich die starrende Familie bat, mich in Ruhe zu
lassen, bestätigte ich eine mögliche Ansicht, dass Ausländer eine abgeschottete
exotische Spezies sind, die mit Indern nichts zu tun haben wollen. In dieser
Situation den Unterschied zwischen der Bitte um ein Taschentuch und schamlosen
Anstarrens zu verdeutlichen, erscheint mir fast unmöglich.
Ich
habe fast ein Jahr gebraucht um das Phänomen der starrenden Menschen im Park zu
verstehen und bin mir bis heute nicht sicher, ob ich es vollständig erfasse.
Anfangs überprüfte ich in solchen Situationen meine Klamotten, ob etwas falsch
sei, ich vielleicht meine Kurta links herum trug. Wenn ich nichts feststellen
konnte, fragte ich mich, ob ich mich daneben benommen hatte, unbewusst in ein
Fettnäpfchen getreten war. Schließlich versuchte ich mich so „indisch“ wie
möglich zu verhalten, doch die Blicke der Passanten hielten an. Ich kam zu dem
Schluss, dass weder die Kleidung noch das Verhalten eine entscheidende Rolle
spielen. Was zählt, sind die Hintergedanken beider Seiten. Ein Ausländer ruft
in Indien oft eine Kombination aus Neugier und Unsicherheit hervor. Für lange
Zeit waren Europäer eine Seltenheit in Indien. Man kannte sie als Touristen
oder Geschäftsleute und aus dem Geschichtsbuch als Kolonialherren. Einen
zweiten Eindruck vermittelte später Hollywood, das nicht unbedingt für seine
Nähe zur Realität bekannt ist. Viele Inder haben nie mit einem Ausländer
gesprochen oder einen gesehen, aber stattdessen viel über sie gehört. Daraus
resultieren eine Menge verschiedene Gründe, mich auf meiner Parkbank eingehend
zu mustern. Ich auf der anderen Seite empfinde es als äußerst stressig, unter
ständiger Beobachtung zu stehen und wünsche mir manchmal nichts seliger als
einen Tag in Frieden.
Ich
kann letztendlich jedoch niemandem einen Vorwurf machen; weder
den Kanadiern mit der Wasserflasche, noch den starrenden Menschen im
Botanischen Garten. Letztendlich hatte keine der beiden Seiten wirklich eine
Chance, es besser zu wissen. In vielen Aspekten bin ich selbst voreingenommen
und mir dessen noch nicht einmal bewusst. Und in einem gewissen Ausmaß brauchen wir
diese gegenseitigen Vorurteile eventuell auch. Wären sie nicht da, wie begrenzt
wäre die Möglichkeit, voneinander zu lernen!