Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Montag, 7. November 2016

Crush the bottle after use

…oder warum es mir nicht möglich ist, einen ruhigen Tag im Park zu verbringen.
Ich saß im Frühstücksraum eines Touristenhotels in Agra, neben mir ein Paar aus Kanada, das aufmerksam das Etikett einer indischen Wasserflasche studierte. Neben den  Angaben über den Gehalt an Mineralien fand sich die Anweisung, die leere Flasche zu zerstören. Das Paar lachte ungläubig auf und bemerkte sarkastisch, dass es nicht „recycle the bottle after use“ lautete und dass Indien in seinen Ansichten doch sehr anders sei als ihr Heimatland. Am Nebentisch wunderte ich mich, ob ich ihnen den Grund für die Anweisung erklären sollte – Leere Flaschen werden in Indien oft mit Flusswasser gefüllt und erneut verkauft – ließ es dann aber und wandte mich wieder meinem Frühstück zu.
Das Erlebnis hatte mir jedoch zu denken gegeben, stellte es doch ein hervorragendes Beispiel für interkulturelle Missverständnisse dar. Vorurteile gegenüber fremden Ländern und deren Bewohnern existieren überall auf der Welt. Während Indien in Europa oft als chaotisch und schmutzig gesehen wird, gelten hellhäutige Ausländer in Indien als moralisch locker, reich und unnahbar. Häufig hatte ich selbst mit diesen Vorurteilen zu kämpfen, etwa wenn sich Menschen nicht trauten, mit mir zu sprechen oder Männer mir obszöne Sprüche nachriefen. Ich will eine dieser Gelegenheiten erzählen, die mir die Komplexität kultureller Differenzen deutlich vor Augen hielt.
Ich saß auf einer Bank in Lalbagh, dem Botanischen Garten von Bangalore, und las ein Buch. Auf dem Weg vor mir spazierten Menschengruppen vorbei, Familien, Paare, College Studenten, Senioren. Schließlich ließ mich ein paar Füße aufblicken, das direkt vor meiner Bank stehengeblieben war. Es gehörte der Tochter einer vorbeigehenden Familie, die sogleich den Rest ihrer Verwandten herbeirief. Schließlich stand die ganze Familie um mich herum, starrte mich wortlos an und studierte aufmerksam mein Buch. Nachdem ich mich einen Moment gewundert hatte, bat ich sie zu gehen und mich in Ruhe lesen zu lassen, da ich es nicht als sehr höflich empfand wie ein Zootier behandelt zu werden. Als sie sich entfernten, hörte ich aus ihrer Unterhaltung deutlich das Wort „Westerner“ heraus. Der Gedanke, dass ich in einem Land, das mir wie mein Zuhause vorkommt, nicht wie alle anderen unbehelligt im Park sitzen kann, ärgerte mich. Kurz darauf kam eine Gruppe junger Männer vorbei, die mir laut „Hi Madam!“ zuriefen und lachten, gefolgt von einem älteren Ehepaar, das mich mit einem langen missbilligenden Blick bedachte. Ein paar ähnliche Vorfälle später war ich bereit, dem nächsten, der mich belästigte, meine Tasche über den Kopf zu hauen, als ich auf eine Gruppe Mädchen aufmerksam wurde, die kichernd auf der Bank neben mir saßen und offensichtlich beratschlagten, ob sie mich ansprechen sollten. Schließlich bat mich eine von ihnen schüchtern um ein Taschentuch, nahm es entgegen und rannte kichernd zu ihren Freundinnen zurück, die sie mit den Worten „I don´t know you! What did you ask her?“ empfingen. Ich überlegte, ob ich zu ihnen gehen sollte um zu erklären, dass ich kein Monster sei, vor dem man Angst haben müsste, erinnerte mich dann aber meines früheren Ärgers und ließ es sein.
Hier liegt die zerstörerische Kraft gegenseitiger Vorurteile: Existieren sie einmal, bestärken sie sich selbst. Indem ich die starrende Familie bat, mich in Ruhe zu lassen, bestätigte ich eine mögliche Ansicht, dass Ausländer eine abgeschottete exotische Spezies sind, die mit Indern nichts zu tun haben wollen. In dieser Situation den Unterschied zwischen der Bitte um ein Taschentuch und schamlosen Anstarrens zu verdeutlichen, erscheint mir fast unmöglich.
Ich habe fast ein Jahr gebraucht um das Phänomen der starrenden Menschen im Park zu verstehen und bin mir bis heute nicht sicher, ob ich es vollständig erfasse. Anfangs überprüfte ich in solchen Situationen meine Klamotten, ob etwas falsch sei, ich vielleicht meine Kurta links herum trug. Wenn ich nichts feststellen konnte, fragte ich mich, ob ich mich daneben benommen hatte, unbewusst in ein Fettnäpfchen getreten war. Schließlich versuchte ich mich so „indisch“ wie möglich zu verhalten, doch die Blicke der Passanten hielten an. Ich kam zu dem Schluss, dass weder die Kleidung noch das Verhalten eine entscheidende Rolle spielen. Was zählt, sind die Hintergedanken beider Seiten. Ein Ausländer ruft in Indien oft eine Kombination aus Neugier und Unsicherheit hervor. Für lange Zeit waren Europäer eine Seltenheit in Indien. Man kannte sie als Touristen oder Geschäftsleute und aus dem Geschichtsbuch als Kolonialherren. Einen zweiten Eindruck vermittelte später Hollywood, das nicht unbedingt für seine Nähe zur Realität bekannt ist. Viele Inder haben nie mit einem Ausländer gesprochen oder einen gesehen, aber stattdessen viel über sie gehört. Daraus resultieren eine Menge verschiedene Gründe, mich auf meiner Parkbank eingehend zu mustern. Ich auf der anderen Seite empfinde es als äußerst stressig, unter ständiger Beobachtung zu stehen und wünsche mir manchmal nichts seliger als einen Tag in Frieden.

Ich kann  letztendlich  jedoch niemandem einen Vorwurf machen; weder den Kanadiern mit der Wasserflasche, noch den starrenden Menschen im Botanischen Garten. Letztendlich hatte keine der beiden Seiten wirklich eine Chance, es besser zu wissen. In vielen Aspekten bin ich selbst voreingenommen und mir dessen noch nicht einmal bewusst.  Und in einem gewissen Ausmaß brauchen wir diese gegenseitigen Vorurteile eventuell auch. Wären sie nicht da, wie begrenzt wäre die Möglichkeit, voneinander zu lernen!