Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Freitag, 9. Dezember 2016

Amma

Jayalalithaa Jayaraman war eine tamilische Politikerin und Schauspielerin. Sie hatte in ihrem Leben insgesamt 6 mal das Amt des Chief Ministers of Tamil Nadu inne. In der Nacht des 5.Dezember verstarb sie im Apollo Krankenhaus in Chennai nach einem Herzinfarkt.
Dies ist ein persönlicher Nachruf auf eine Politikerin, die es vermochte, mein erstes Jahr in Indien und insbesondere meinen Eindruck von Tamil Nadu stark zu prägen.
Ich kannte ihren Spitznamen „Amma“ (Mutter) bevor mir ihr eigentlicher Name zu Ohren kam. Zum ersten Mal sah ich sie auf einem Wandgemälde am Ortsausgang Thiruvallurs. Es war ein typisches Portrait, mit dunkelgrünem Sari, weißer Haut und einem charakteristischen Lächeln im Gesicht. Dasselbe Portrait zierte mehrere Haushaltsgegenstände meiner Gastfamilie, sowie Wasserflaschen an Busstationen und Restaurants. Amma war nicht bloß Politikerin, sie war eine Marke. Sie schaffte es auf geschickte Weise, überall im Alltag Tamil Nadus präsent zu sein. Ihr Portrait stand für eine Nähe zu den armen Bevölkerungsschichten, da die Gegenstände die es zierte, billiger zu haben waren als üblich. Bei den reicheren Leuten jedoch bedeuteten ebenjene Fernseher, Reismühlen und Waschmaschinen schlechte Qualität und wer sich besseres leisten konnte, sammelte alles, das Jayalalithaas Konterfei trug in der Abstellkammer.
Ebenso berühmt wie Ammas Portrait ist das eines Mannes mit Sonnenbrille und Fellhut. Die Beziehung zwischen Jayalalithaa und M.G. Ramachandran, kurz MGR , ist legendär. Die beiden lernten sich an den Sets der tamilischen Filmindustrie kennen und sind in insgesamt 28 Filmen zusammen zu sehen. Es war der 35 Jahre ältere MGR, der sie schließlich zu ihrer politischen Karriere brachte. Nach seinem Tod trat Jayalalithaa mit einigen Schwierigkeiten in seine Fußstapfen als Parteichefin der AIADMK. Sie wurde am 6. Dezember neben ihrem ehemaligen politischen Mentor beigesetzt.
Die indischen Zeitungen veröffentlichten detaillierte Artikel über das Leben und politische sowie schauspielerische Wirken Ammas. Mir war ein Großteil jener Ausführungen fremd, hatte ich doch nur das letzte Jahr ihrer politischen Karriere miterlebt. In meiner Zeit in Tamil Nadu hatte ich Jayalalithaa als eine populistische Ministerin erlebt, die es vermochte, äußerst geschickte Propaganda zu betreiben. Auf der anderen Seite blieb sie für mich ein Mysterium: Wie lebte sie alleine ohne Familie in ihrer Residenz? Was empfand sie für den verstorbenen MGR? Mein Eindruck von ihr war neben dem Bild der nicht immer legal handelnden und stark selbst-inszenierenden Politikerin auch immer geprägt von der Vorstellung eines einsamen Menschen.

Wie sehr meine Gedanken auf die Person zutreffen, ist fraglich. Dennoch war es mir ein Bedürfnis diesen Blog  Artikel zu schreiben. Obwohl ich als Ausländer in ihren Staat kam und dort nur etwa 11 Monate blieb, war sie für mich untrennbar mit dieser Zeit verbunden. Mit ihr stirbt ein Teil von Tamil Nadu.

Montag, 7. November 2016

Crush the bottle after use

…oder warum es mir nicht möglich ist, einen ruhigen Tag im Park zu verbringen.
Ich saß im Frühstücksraum eines Touristenhotels in Agra, neben mir ein Paar aus Kanada, das aufmerksam das Etikett einer indischen Wasserflasche studierte. Neben den  Angaben über den Gehalt an Mineralien fand sich die Anweisung, die leere Flasche zu zerstören. Das Paar lachte ungläubig auf und bemerkte sarkastisch, dass es nicht „recycle the bottle after use“ lautete und dass Indien in seinen Ansichten doch sehr anders sei als ihr Heimatland. Am Nebentisch wunderte ich mich, ob ich ihnen den Grund für die Anweisung erklären sollte – Leere Flaschen werden in Indien oft mit Flusswasser gefüllt und erneut verkauft – ließ es dann aber und wandte mich wieder meinem Frühstück zu.
Das Erlebnis hatte mir jedoch zu denken gegeben, stellte es doch ein hervorragendes Beispiel für interkulturelle Missverständnisse dar. Vorurteile gegenüber fremden Ländern und deren Bewohnern existieren überall auf der Welt. Während Indien in Europa oft als chaotisch und schmutzig gesehen wird, gelten hellhäutige Ausländer in Indien als moralisch locker, reich und unnahbar. Häufig hatte ich selbst mit diesen Vorurteilen zu kämpfen, etwa wenn sich Menschen nicht trauten, mit mir zu sprechen oder Männer mir obszöne Sprüche nachriefen. Ich will eine dieser Gelegenheiten erzählen, die mir die Komplexität kultureller Differenzen deutlich vor Augen hielt.
Ich saß auf einer Bank in Lalbagh, dem Botanischen Garten von Bangalore, und las ein Buch. Auf dem Weg vor mir spazierten Menschengruppen vorbei, Familien, Paare, College Studenten, Senioren. Schließlich ließ mich ein paar Füße aufblicken, das direkt vor meiner Bank stehengeblieben war. Es gehörte der Tochter einer vorbeigehenden Familie, die sogleich den Rest ihrer Verwandten herbeirief. Schließlich stand die ganze Familie um mich herum, starrte mich wortlos an und studierte aufmerksam mein Buch. Nachdem ich mich einen Moment gewundert hatte, bat ich sie zu gehen und mich in Ruhe lesen zu lassen, da ich es nicht als sehr höflich empfand wie ein Zootier behandelt zu werden. Als sie sich entfernten, hörte ich aus ihrer Unterhaltung deutlich das Wort „Westerner“ heraus. Der Gedanke, dass ich in einem Land, das mir wie mein Zuhause vorkommt, nicht wie alle anderen unbehelligt im Park sitzen kann, ärgerte mich. Kurz darauf kam eine Gruppe junger Männer vorbei, die mir laut „Hi Madam!“ zuriefen und lachten, gefolgt von einem älteren Ehepaar, das mich mit einem langen missbilligenden Blick bedachte. Ein paar ähnliche Vorfälle später war ich bereit, dem nächsten, der mich belästigte, meine Tasche über den Kopf zu hauen, als ich auf eine Gruppe Mädchen aufmerksam wurde, die kichernd auf der Bank neben mir saßen und offensichtlich beratschlagten, ob sie mich ansprechen sollten. Schließlich bat mich eine von ihnen schüchtern um ein Taschentuch, nahm es entgegen und rannte kichernd zu ihren Freundinnen zurück, die sie mit den Worten „I don´t know you! What did you ask her?“ empfingen. Ich überlegte, ob ich zu ihnen gehen sollte um zu erklären, dass ich kein Monster sei, vor dem man Angst haben müsste, erinnerte mich dann aber meines früheren Ärgers und ließ es sein.
Hier liegt die zerstörerische Kraft gegenseitiger Vorurteile: Existieren sie einmal, bestärken sie sich selbst. Indem ich die starrende Familie bat, mich in Ruhe zu lassen, bestätigte ich eine mögliche Ansicht, dass Ausländer eine abgeschottete exotische Spezies sind, die mit Indern nichts zu tun haben wollen. In dieser Situation den Unterschied zwischen der Bitte um ein Taschentuch und schamlosen Anstarrens zu verdeutlichen, erscheint mir fast unmöglich.
Ich habe fast ein Jahr gebraucht um das Phänomen der starrenden Menschen im Park zu verstehen und bin mir bis heute nicht sicher, ob ich es vollständig erfasse. Anfangs überprüfte ich in solchen Situationen meine Klamotten, ob etwas falsch sei, ich vielleicht meine Kurta links herum trug. Wenn ich nichts feststellen konnte, fragte ich mich, ob ich mich daneben benommen hatte, unbewusst in ein Fettnäpfchen getreten war. Schließlich versuchte ich mich so „indisch“ wie möglich zu verhalten, doch die Blicke der Passanten hielten an. Ich kam zu dem Schluss, dass weder die Kleidung noch das Verhalten eine entscheidende Rolle spielen. Was zählt, sind die Hintergedanken beider Seiten. Ein Ausländer ruft in Indien oft eine Kombination aus Neugier und Unsicherheit hervor. Für lange Zeit waren Europäer eine Seltenheit in Indien. Man kannte sie als Touristen oder Geschäftsleute und aus dem Geschichtsbuch als Kolonialherren. Einen zweiten Eindruck vermittelte später Hollywood, das nicht unbedingt für seine Nähe zur Realität bekannt ist. Viele Inder haben nie mit einem Ausländer gesprochen oder einen gesehen, aber stattdessen viel über sie gehört. Daraus resultieren eine Menge verschiedene Gründe, mich auf meiner Parkbank eingehend zu mustern. Ich auf der anderen Seite empfinde es als äußerst stressig, unter ständiger Beobachtung zu stehen und wünsche mir manchmal nichts seliger als einen Tag in Frieden.

Ich kann  letztendlich  jedoch niemandem einen Vorwurf machen; weder den Kanadiern mit der Wasserflasche, noch den starrenden Menschen im Botanischen Garten. Letztendlich hatte keine der beiden Seiten wirklich eine Chance, es besser zu wissen. In vielen Aspekten bin ich selbst voreingenommen und mir dessen noch nicht einmal bewusst.  Und in einem gewissen Ausmaß brauchen wir diese gegenseitigen Vorurteile eventuell auch. Wären sie nicht da, wie begrenzt wäre die Möglichkeit, voneinander zu lernen!

Donnerstag, 22. September 2016

English

… ist zusammen mit Hindi offizielle Landessprache Indiens. Sie enthält eine Essenz des Landes, von kolonialen Überbleibseln über sozialen Status bis zu der Frage nach indischer Identität.
Ich traue mich kaum, diesen Artikel zu beginnen, so subtil, so vielschichtig ist das Thema und so leicht ist es, einen Fehler zu begehen. Der Auslöser aller Phänomene jedoch scheint zu sein, dass Indien als Volk mit einer über 3000 Jahre alten Kultur eine fremde Sprache spricht, gebracht von einem ausländischen Unterdrücker. Man sagt, dass der Ursprung des Studiums Britischer Literatur in Indien liegt, geboren aus dem Streben nach sozialem Status. Ansehen in der Gesellschaft ist heute mit der englischen Sprache mehr verknüpft denn je. Indiens wirtschaftlicher Aufschwung geschah auf Englisch und nur wer die Sprache beherrscht, hat eine Chance auf ein hochwertiges Studium und einen gut bezahlten Job.
Englisch in Indien scheint jedoch oft eine Frage des Akzents. „Indisches Englisch“ existiert nicht. Stattdessen findet man so viele Akzente wie Sprachen, jeweils begleitet von Klischees und Witzen. Aussprache ist ein zweischneidiges Schwert. Während die einen stolz sind auf den regionalen Touch, versuchen andere ihn so gut wie möglich zu verbergen. Britisches oder Amerikanisches Englisch ist das Ideal, „International English“ oder gar „Indian Accent“ verpönt. Auf das Streben nach perfekter Aussprache wurde ich durch einen Professor der Christ University aufmerksam, der sich stets bemühte, nicht indisch zu klingen. Dieser Professor unterrichtet ein Fach namens Additional English, das sich mit englischsprachiger indischer Literatur befasst und damit die Beziehung der Inder  zu der Sprache stets beinhaltet.
Ein Beispiel ist das Gedicht „Goodbye Party for Miss Pushpa TS“ des Dichters Nissim Ezekiel. Es beschreibt eine in nordindischem Akzent gehaltene Rede anlässlich einer Abschiedsfeier und enthält sämtliche charakteristische grammatikalische Phänomene, wie die vermehrte Nutzung der Wörter „only“ und „also“, außergewöhnlich häufig auftretendes present progressive und das Fehlen von Artikeln und Präpositionen. Das Werk kann in verschiedenen Akzenten vorgelesen werden, ohne je seine Wirkung zu verlieren. Hauptaussage ist jedoch die Peinlichkeit und Verunsicherung des Redners, der Englisch benutzt um modern zu erscheinen ohne die Sprache jedoch gut zu beherrschen.
Hier wird ein Konflikt deutlich, der tief sitzt in der indischen Bevölkerung. Es ist ein Konflikt zwischen Tradition und Moderne, der in Frage stellt, was „indisch“ ist und was nicht. Indien ist stolz auf seine Jahrtausende alte einzigartige Kultur und versucht diese in der Welt zu repräsentieren. Auf der anderen Seite ist es abhängig von der amerikanischen IT Branche und nur wer westlich lebt, gilt als hip. Die besten Jobs sind im Ausland zu haben und wer kann geht – vorausgesetzt, er oder sie beherrscht fehlerfreies Englisch. Englisch ist die Sprache des Westens und des Kapitalismus, gesprochen von einem Volk, das alldem eher kritisch und konservativ  gegenübersteht und sich noch gut der Zeiten des Sozialismus erinnert, in denen Indien weitgehend abgeschottet vom Weltmarkt ohne aus den Emiraten, Singapur und den USA importierten Waren auskam. Englisch wurde im späten 19. Jahrhundert  vom Indischen Nationalkongress als Sprache einer neuen vereinten Nation eingeführt und kennt dennoch keinen einzigen Ausdruck  für  Elemente indischer Tradition.  Die Sprache ist repräsentativ für ein Stück nationaler Geschichte, das bis heute andauert und sie war von ihrer Einführung bis zur Gegenwart nie frei von inneren Konflikten.


Freitag, 16. September 2016

Section 144

…der Indischen Verfassung untersagt Versammlungen von über drei Personen im Falle eines außergewöhnlichen Zustandes der Sicherheitslage.
Staaten wie Jammu & Kashmir erfahren die Verhängung dieses Paragraphen regelmäßig und auch in Delhi kam er 2012 zum Einsatz nachdem die brutale Gruppenvergewaltigung einer Studentin Unruhen und Proteste ausgelöst hatte.
Am Montag, dem 12.9.2016 verhängte die Regierung von Karnataka Section 144 über Bangalore nachdem randalierende Mobs in verschiedenen Stadtteilen Fahrzeuge in Brand gesetzt, Menschen zusammengeschlagen und Geschäfte demoliert hatten. Auslöser der Unruhen war ein uralter Disput zwischen Karnataka und Tamil Nadu über das Wasser das Kaveri Rivers, der durch beide Staaten fließt. Schon während der Kolonialzeit stritt man über die gerechte Verteilung des Wassers, das beiden Staaten als Trinkwasser und zur Bewässerung von Feldern dient. 2002 legte der indische Supreme Court eine Verteilung fest, die Karnataka in diesem Jahr wegen einer Dürre anfocht; ein Versuch, der erfolglos blieb. Eine Regulierung des Supreme Court, dass Karnataka seine vorgeschriebene Menge Wasser an Tamil Nadu abzugeben habe, führte zu anti-Tamil Protesten in Bangalore.
Ich wurde auf die Proteste zunächst aufmerksam als ich durch eine der Hauptstraßen Bangalores lief und sämtliche  Geschäfte geschlossen vorfand. Auf dem Heimweg begegneten mir mehrere Gruppen auf Motorrädern, die die rot-gelbe Fahne Karnatakas schwangen. Ein paar Stunden später bat die Polizei alle Anwohner bis auf weiteres ihre Häuser nicht zu verlassen. In mehreren Stadtteilen, insbesondere an Busstationen von denen Busse nach Tamil Nadu abfahren, randalierten wütende Mobs und setzen Fahrzeuge mit tamilischen Kennzeichen in Brand.
Interessanter repräsentiert wird der Konflikt jedoch durch die Kommentare auf Facebook, Twitter oder unter den Artikeln selbst. Die Mehrheit appellierte dabei an das indische Nationalgefühl, das den Stolz miteinschließt, in einem multikulturellen Land zu leben und einander zu respektieren. Andere beschuldigten die Regierung, die Proteste  absichtlich zu organisieren um von anderen Problemen abzulenken und wieder andere lobten die Randalierer und bekräftigten wie wichtig es sei, für seinen Staat zu kämpfen. Entsprechend variierten die Hashtags von #Cauveryissue  zu #Wereallindians zu #nammakarnataka.

Die Regierung reagierte mit Polizei und paramilitärischen Einsatzkräften, die mit Hilfe von Schlagstöcken und Tränengas für Ordnung sorgten. Zwei Menschen starben in Gefechten mit der Polizei. Am Morgen des 14. September herrschte Ruhe. Gespenstische Ruhe. Die Stadt war verunsichert, traute der wiedergewonnen Normalität nicht. Ein Taxi, das ich an diesem Morgen nahm, umfuhr Bangalore weiträumig. Seitdem ist es still geblieben in Indiens IT Hauptstadt, ohne dass jedoch der Konflikt gelöst ist. Es ist ein gewaltsamer Friede.

Sonntag, 24. Juli 2016

Christ University

…ist der Name des Ortes, an dem ich die nächsten drei Jahre studieren werde. Es handelt sich um eine private Universität in Bangalore, die den Ruf hat, zu den besten des Landes zu gehören.
Mein erster Eindruck  lässt sich relativ gut mit einem Statement beschreiben, das eine Dozentin in einer unserer ersten Vorlesungen von sich gab: „People who are hugging and speaking broken English are transformed here.“  Während ich mir überlegte, worin der Zusammenhang zwischen Umarmungen und gebrochenem Englisch besteht, fuhr sie bereits fort, dass es sich bei diesem Campus um einen „Clean Shaved Campus“ handelt, woraufhin zwei Studenten hinausgeschickt wurden um bartlos wiederzukommen. Des Weiteren sind Jeans und enge Hosen verboten, Krawatten, bzw. Dupattas Pflicht und Studenten sind angehalten, auf angemessene Sprache zu achten, ein Verbot, das das Wort „Sex“ mit einschließt.
Ich will im Folgenden eine klassische Vorlesung unseres Kurses beschreiben:
Es ist Montag, 8:30am, der Professor für Political Theory betritt den Raum. Nachdem 15 Minuten lang die Anwesenheit aller 60 Studenten geprüft wurde (die um zur Prüfung zugelassen zu werden 85% betragen muss), beginnt eine Debatte über die Eigenschaften eines Staates und seinen möglichen Fehlern. Ein Student bringt das Beispiel Pakistans als korrupten diktatorischen Staat, dem allseits zugestimmt wird. Der Professor sagt nichts. Später kommt das Thema auf humanitäre Interventionen, der Kurs schläft. Dem Dozenten kommt eine Idee: „Do we want Pakistan to come and intervene us?“  Schlagartig sind alle hellwach, selbstverständlich nicht, ist die allgemeine Antwort. Zum Abschluss wird eine Rede Narendra Modis in den USA gezeigt. Der indische Staatschef rühmt sein Land als größte Demokratie der Welt-und der Kurs sitzt gerade und hört aufmerksam zu.
Neben den klassischen Fächern ist der Besuch eines Kurses namens „Holistic Education“ verpflichtend, der dazu dient, soziale Werte zu vermitteln. Themen sind beispielsweise Freundschaft, Beziehungen oder Geschlechterrollen. In diesem Kurs lernte ich, die Bedeutung lebenslanger Freundschaft im Gegensatz zu „social activity buddies“, also Freunden, mit denen man Spaß hat, aber die sehr bald vergessen werden oder die Wichtigkeit der Ehe. Da die Christ University nicht nur für akademische Bildung sondern auch für seelische Entwicklung sorgt, ist dieser Kurs ebenfalls prüfungsrelevant.



Montag, 23. Mai 2016

Tērtal

…ist das tamilische Wort für Wahl. Eine solche fand voriges Wochenende in Tamil Nadu statt. Es ging um den Posten des Chief Ministers und die Entscheidung fiel zwischen den beiden Hauptparteien des Staates DMK (Draavida Munnetra Kazhagam), und AIADMK (All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam).
Bis dato wurde Tamil Nadu von Jayalalitha, bekannt unter dem Spitznamen Amma (Mutter) und Vorsitzende der AIADMK, regiert. Nicht nur Deutschland hat Mutti. Als ehemalige Schauspielerin und Geliebte des verstorbenen Chief Ministers M.G. Ramachandran besaß sie schon vor ihrer Politikerkarriere einige Berühmtheit. Seit Beginn ihrer Regierungszeit ziert ihr Gesicht Wände in ganz Thiruvallur sowie diverse Gegenstände, von Ventilatoren bis zu Trinkwasser, die billiger sind als ihre Vergleichsprodukte.
Der Beginn des Wahlkampfs war schon vor Monaten zu spüren. Ich erinnere mich, wie meine Gastschwester mit drei Flachbildfernsehern und ebenso vielen Ventilatoren sowie Reismühlen hereinkam und erklärte, dass dies Wahlgeschenke von Jayalalitha seien. Weil jedes Familienmitglied dreifach als Wähler registriert ist, gibt es die dreifache Menge an Haushaltsgegenständen. In ihrer Lebensdauer unterscheiden sich diese jedoch nicht sonderlich von dem obligatorischen Kugelschreiber, der in Deutschland vor Wahlen gerne verteilt wird: Sie beschränkt sich meist auf ein paar Monate. Die dreifache Registrierung, zu verdanken drei verschiedenen Wohnorten, ginge theoretisch auch mit einer dreifachen Anzahl an Stimmen einher, wäre da nicht die wasserfeste Tinte, die den Zeigefinger jedes Wählers ziert und deren Lebensdauer mehrere Wochen beträgt.
Zeitgleich mit dem Wahlkampf tauchten auch die ersten Anti-Korruptionsplakate auf. (Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wer für sie verantwortlich ist. Es wäre pure Ironie, stammten sie von der Regierung selbst.) Tatsächlich ist es eine weit verbreitete Praxis in den Morgenstunden, die auch Einbrecher gerne nutzen, da die Menschen häufig nicht zu Hause sind, 2000-5000 Rupien durch den Türschlitz zu schieben. Natürlich Anonym. Dennoch: Die Parteien wissen wer sie wählt. Und die Wähler, wer sie besticht.

Letzte Woche wurde Jayalalitha schließlich für eine weitere Amtszeit gewählt; ein Ergebnis, das mich in Anbetracht ihres Verhaltens während der Überflutungen überraschte. Mein Freund begründete es jedoch so: „Immerhin hat sie keine offene Mordanklage.“ Na dann. Und ein Gutes  hat ihre Wiederwahl doch: Es wird weiterhin an den Busstationen Tamil Nadus billiges Amma-Wasser zu kaufen geben. Irgendwo sind wir alle bestechlich. 

Dienstag, 17. Mai 2016

Kaadal

…ist das Tamilische Wort für Liebe. Mein Jahr in Chennai neigt sich dem Ende zu und wird in ein paar Wochen nahtlos in ein Studium von Politikwissenschaft, Englisch und Geschichte an der Christ University in Bangalore übergehen. Selbstverständlich wird dieser Blog auch in der neuen Umgebung weitergeführt. Dennoch: Es ist Zeit für eine Liebeserklärung.
Wie bei jeder echten Liebeserklärung weiß ich nicht, wie ich sie beginnen soll. Es gab eine Zeit, als all meine Mitfreiwilligen aus Sriperumbudur in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren und ich an den Wochenenden plötzlich alleine war. Während dieser Zeit lernte ich eine Stadt lieben, die alles, was ich je zuvor für andere Orte der Welt empfunden hatte, wie reine Kindergartenschwärmerei erscheinen ließ. Ich kannte Chennai seit Beginn, doch erst als ich es Wochenende für Wochenende zu Fuß (die denkbar schlechteste und doch interessanteste Art) erkundete, funkte es zwischen uns. Verliebte ich mich. Begann ein Gefühl untrennbarer Zusammengehörigkeit. Wurde mir klar, wie viel ich für die Stadt empfand.  Hach, Liebe ist kompliziert.
Chennai ist bei den meisten Indern, wie auch Freiwilligen verhasst und das mit gutem Grund. Verglichen mit dem modernen und hippen Bangalore erscheint die Stadt, in Phänotyp, wie in Mentalität,  wie ein übergroßes Dorf. Chennai ist heiß, staubig, konservativ, hart und stinkend, oder, wie einer meiner indischen Freunde es gerne ausdrückt, „in your face.“ In Chennai herrscht Alkoholverbot, wer versucht, sich mit einem Inder im falschen Hotel ein Zimmer zu nehmen, wird wegen Prostitution auf die Polizeiwache gebracht und wer erwartet, dass ein Autorickshawfahrer das Taxameter einschaltet, sollte seinen Sinn für Realität überprüfen.
Zur gleichen Zeit ist Chennai wunderschön, es repräsentiert alle Schichten der indischen Bevölkerung, es ist beeinflusst von Dubai, den USA, Singapur, England und Mumbai zugleich, es ist geprägt von tamilischem Stolz, und es herrscht eine Atmosphäre, die selbst seine härtesten Kritiker als familiär bezeichnen. Chennai ist sympathisch, es ist Familie, Zuhause. Chennai befindet sich in einer Umbruchsphase, in der noch nicht entschieden ist, wohin die Reise geht. Alles scheint möglich.
Chennai hat den St Thomas Mount, der einen grandiosen Blick über die Start- und Landebahnen des internationalen Flughafens bietet; Chennai hat Besant Nagar, das zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes Persönlichkeiten wie Annie Besant und Rukmini Devi ein Zuhause bot und noch heute den Garten der Theosophischen Gesellschaft, sowie die Kalakshetra Foundation für traditionellen Tanz beherbergt. In Chennai findet man das alte Bazaarviertel Georgetown, in dem  von Weihnachtskarten bis zu Glycerin alles zu haben ist und ein paar Kilometer weiter die Phoenix Market City, in der die Oberschicht Klamotten von Chanel shoppt. Das im Stadtteil Royapettah befindliche Sathyam Theatre behandelt reiche Jugendliche, die sich mit ihren 300 Rupien Karten auf die guten Plätze setzen genauso, wie Straßenkinder mit einer 10 Rupien Karte für den Rand der ersten Reihe. Es gibt nichts Besseres als im zäh fließenden Verkehr am Abend aus dem Fenster eines Busses von Koyambedu nach Adyar zu schauen und einen Blick auf den erleuchteten Gandhi Mandapam, den Campus der Anna University, die Schaufenster der Läden, die die Straße säumen und die verschiedenen Verkehrsteilnehmer selbst zu werfen.

Meine Liste, warum ich Chennai liebe ist endlos. Ich werde Indien nicht verlassen, doch der Abschied von Tamil Nadu fällt mir schwer. Ich werde regelmäßig von verschiedenen Indern ausgelacht, wenn ich sage, dass ich mir in Karnataka wie ein Tamile vorkomme. Der Staat und Chennai insbesondere, bieten mir ein Gefühl von zu Hause, wie ich es anfangs nicht für möglich gehalten hätte. Mir bleibt nur eins zu sagen: Chennai, naan unnai kaadalikkiren. Rompa rompa nandri. Ich liebe dich. Danke für alles. 

Montag, 9. Mai 2016

Ratham

…ist das tamilische Wort für Blut. Ich möchte diesen Beitrag mit einer kurzen Geschichte eröffnen. Vor ein paar Monaten bereitete sich mein Gastvater auf eine Pilgerfahrt nach Kerala vor, das Ziel ein Tempel, zu dem nur Männer Zutritt haben. In den elf Tagen vor Aufbruch mussten im Haus besondere Regeln der Reinheit eingehalten werden. An einem Sonntagabend während dieser Zeit kehrte ich müde und erschöpft von einer Reise zurück. Meine Gastschwester empfing mich an der Tür. „Hast du deine Periode?“, war die erste Frage, die sie mir stellte. Etwas überrascht antwortete ich mit einem wahrheitsgemäßen „Ja“, worauf sie mir eröffnete, dass ich die nächsten drei Tage die Wohnung nicht zu betreten habe. Ich ließ durchblicken, dass mich diese Aussicht, auch in Anbetracht der späten Uhrzeit, nicht sonderlich begeisterte, sodass sich meine Gastschwester schließlich ein Herz fasste und mir gestattete, falls die ersten drei Tage bereits vorüber seien, in meinem Zimmer zu übernachten.

Menstruation ist in Indien eines der sensibelsten Themen, die in der Gesellschaft existieren. Seine volle Tragweite wird mir erst bewusst, nachdem mich mein Projekt gebeten hatte, ein Aufklärungsprogramm darüber zu erstellen. Während selbst meine relativ moderne Familie bereit war, mich ungeachtet aller Sicherheitsrisiken drei Tage lang nicht in die Wohnung zu lassen, sieht die Situation auf dem Land noch einmal anders aus. Manche Dörfer besitzen spezielle Hütten außerhalb der Grenzen, in die sich menstruierende Frauen während ihrer Periode zurückziehen, oft alleine und ohne Küche oder Toilette. Sie verlassen sich auf die übrigen Frauen der Familie, um etwas zu essen zu bekommen. Selbst in modernen Familien in der Stadt dürfen Tempel, Küche oder Gebetsraum nicht betreten werden. Während der Pongal Feierlichkeiten konnten zwei meiner Gastschwestern nicht am Gebet teilnehmen, weil sie ihre Periode hatten.

Dazu kommt die geringe Verfügbarkeit von Hygieneartikeln auf dem Land. Damenbinden sind verhältnismäßig teuer und für viele Dorfbewohner unerschwinglich. Man behilft sich mit Papier, Blättern und Sand. Die Bildung vieler Mädchen endet mit Einsetzen ihrer Periode, da die Schule während dieser Zeit nicht besucht werden kann. Die verpassten Unterrichtsinhalte aufzuholen, ist für viele nicht möglich.

Vor nicht allzu langer Zeit, besuchten wir eine Familie, deren dreizehnjährige Tochter uns stolz die Bilder ihrer Puberty Function zeigte. Es handelt sich um ein traditionelles Fest in Tamil Nadu, das die erste Periode eines Mädchens feiert. Bevor die indische Regierung Hochzeiten unter achtzehn für illegal erklärte, gab man damit bekannt, dass eine Tochter nun im heiratsfähigen Alter sei. Während des Festes erscheint das Mädchen in den Kostümen verschiedener Götter, sowie in ein paar zusätzlicher seiner Wahl. Japanische Geishas und viktorianische Prinzessinnen sind nicht unüblich. Während besagte Feier auf dem Land selbstverständlich durchgeführt wird, ist sie in den Internetforen der Städter umstritten.

„What should I tell them? Welcome to celebrate the stain on my undergarment?“ twitterte eine Inderin sarkastisch. 

In besagten Foren starteten indische Feministinnen vor ein paar Monaten eine Kampagne, die es bis auf die Straßen Mumbais, Delhis und Bangalores schaffte. Unter dem Hashtag „We bleed. Let´s face it.“ demonstrierten Frauen gegen alte Traditionen und für einen offenen Umgang mit dem Thema. Recht haben sie.

Dienstag, 12. April 2016

Maruttuvar


…ist das tamilische Wort für Arzt. Einen solchen habe ich in der letzen Woche des Öfteren aufgesucht und dabei ein paar interessante Erfahrungen gemacht. Grund genug, einen detaillierteren Blick auf die Orte und Menschen zu werfen, die Chennais Gesundheit aufrechterhalten.

 Es begann an einem späten Dienstagabend, als zuerst mein Sprachvermögen und schließlich auch meine Fähigkeit, klar zu denken aussetzten, gepaart mit starkem Kopfschmerz und einem seltsamen Gefühl in meinem rechten Arm. Als ich beschloss, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, hatte in Thiruvallur ein kleines Krankenhaus Bereitschaft, dessen Existenz ich bisher schlichtweg übersehen hatte. Wie ich aus den Jesusbildern an den Wänden der drei türkis gefliesten Räume, aus denen es bestand, schloss, wurde es von einer christlichen Mission geführt. Der dortige Arzt, verärgert, dass man ihn um diese Uhrzeit störte, grübelte über meinen Symptomen, meinte, sie erinnerten ihn an einen Schlaganfall,  für den ich jedoch eigentlich zu jung sei und empfahl, in Chennai einen Neurologen zu konsultieren.

Das Krankenhaus, in dem ich dies drei Tage später tat, hätte zu meiner ersten Erfahrung nicht stärker in Kontrast stehen können. Es trug den angeberischen Namen „Apollo Hospital on Greams Road“, befand sich in einer der Topstraßen Chennais und in seinen Korridoren traf man die Oberschicht Indiens, Bangladeschs und Westafrikas. In den modern gestalteten Warteräumen wurden ehemalige Diplomaten in Rollstühlen umhergeschoben, während ihre Familien mit teurem Make up und Designerhandtaschen wachsam folgten.  Der Mann, mit dem ich mich schließlich unterhielt, trug den Titel „Prof. Dr. Senior Consultant Neurologist Honorary Neuro Physician to Former the President of India“ und hatte seinerzeit den ehemaligen indischen Präsidenten Abdul Kalam behandelt. Er diagnostizierte einen Anfall von Migräne und riet mir zur Kontrolle zu einem MRT Scan.

Nachdem man mir den Preis eines solchen Scans im Apollo Hospital genannt hatte, den ich hätte vorlegen müssen, beschloss ich, einen preisgünstigeren Ort zu finden. Der ehrenwerte Neurologe empfahl das Zentrum einer Wohltätigkeitsorganisation, gesponsert vom Lions Club Anna Nagar Charitable Trust. Ich betrat ein unscheinbares Gebäude, vor dem eine Gruppe Senioren Schlange stand. Nach einer kurzen Nachfrage, ob sich an meinem Körper Metall befinde, streifte man mir ein altes Nachthemd über und schob mich in ein sehr modernes MRT, das so gar nicht in seine Umgebung zu passen schien. 40 Minuten später verließ ich das Zentrum mit den Bildern meines Gehirns in einer Plastiktüte, die Diagnose: normal.

Ich habe in den vergangen acht Monaten an den Schulen der Vororte Chennais zahllose Unterrichtseinheiten zu verschiedenen Krankheiten gegeben. Fast genauso oft habe ich den Schülern bei Auftreten bestimmter Symptome zu einem Arztbesuch geraten. Was dies jedoch tatsächlich bedeutet; welche Vielzahl von Erfahrungen sich hinter diesem simplen Rat verbirgt, wurde mir erst letzte Woche ganzheitlich bewusst.

Dienstag, 22. März 2016

Kudumbam


…ist das tamilische Wort für Familie. Während meiner Schulzeit lernte ich einmal, dass die Familie die kleinste Einheit der Demokratie und eine wichtige Stütze der Gesellschaft ist. Trifft dies auf Deutschland zu, ist es in Indien um ein hundertfaches stärker der Fall.

Traditionell lebt man in Indien in einer so genannten „joined family“ unter einem Dach mit Eltern, Tanten, Onkels, Großeltern, unverheirateten Schwestern und Cousinen, sowie Brüdern und Cousins und deren Ehefrauen. Einzig Töchter verlassen nach der Hochzeit das Elternhaus um in die Familie ihres Mannes einzuziehen. In manchen Fällen wird jedoch selbst dies verhindert. Vor nicht allzu langer Zeit besuchte ich mit meiner Gastschwester eine Hochzeit im Stadtteil Korattur. Die Braut, eine Schulfreundin meiner Gastschwester, heiratete ihren Cousin. Als Vorteile einer solchen Ehe sind zu nennen, dass der Bräutigam gut bekannt ist, das Mädchen seine Familie nicht verlassen muss und weniger oder keine Mitgift erwartet wird. Der Nachteil ist klar – Inzest mit all seinen gesundheitlichen Folgen.

Ich muss mich an dieser Stelle korrigieren. Habe ich im ersten Absatz dieses Beitrags die indische Familie als demokratische Einheit bezeichnet, fällt mir nun auf, dass dies mehr als fraglich ist. Einer meiner Kollegen war indischer Nationalsportler mit einem Platz im Leichtathletik Team und Chancen auf Olympia. Er erinnert sich wehmütig an seine Wettkämpfe vor Zehntausenden von Zuschauern, bevor seine Familie dem Traum vom Sport ein Ende bereitete und ihn stattdessen Sozialarbeit studieren ließ. Es ist eine Geschichte von vielen. Kaum ein Kollege aus meinem Projekt macht den Job, den er einst machen wollte. Ohne die endgültigen Entscheidungen der jeweiligen Eltern säße ich zusammen mit einer Gruppe aus Fotografen, Journalisten, Piloten und wie gesagt einem erfolgreichen Athleten. Demokratie ist anders.

(Es ist hier einmal an der Zeit meine eigene Familie zu loben, die mich auf äußerst demokratische Weise unterstützt und der ich sehr sehr dankbar für so vieles bin)

Auf der anderen Seite jedoch steht der Halt, den eine indische Familie bietet. Sie ist Lebensinhalt, Retter in der Not, Identität, zu Hause, Freundschaft und Sozialversicherung zugleich, kurz: Sie umfasst jeden Lebensbereich ihrer Mitglieder. Selbst die entferntesten Verwandten werden mindestens jede Woche angerufen, die näheren sogar täglich, um jedes kleinste Detail des Tages auszutauschen. (Beispielsweise was die deutsche Freiwillige heute schon wieder alles angestellt hat.)Die Familie wird nie langweilig, sie ist eine Sammlung an Charakteren mit ihren ganz eigenen Gesetzen und damit wohl nicht nur kleinste Einheit der Gesellschaft, sondern im Inneren wahrhaftig ein eigener Staat.

Donnerstag, 3. März 2016

Traffic


… ist ein Wort, dessen tamilische Entsprechung so selten verwendet wird, dass jeder, Professor wie Bettler, seine englische Bedeutung kennt. Der Grund hierfür erschließt sich bei einem Blick auf Chennais Straßen.
Ein lauter Knall, gefolgt von einem kollektiven Ausruf „Oyoyoo!“ machte mich vor nicht allzu langer Zeit auf zwei Motorradfahrer im Stadtteil Maduravoyal  aufmerksam. Als ich mich umdrehte um zu sehen, was den Lärm verursacht hatte, richteten sie sich gerade wieder auf und begutachteten die Schäden, sowohl an ihren Fahrzeugen, als auch an ihnen selbst. Nachdem festgestellt wurde, dass nicht viel passiert war, zerstreute sich die Menschentraube, die sich um das Geschehen gebildet hatte wieder.
Auf Indiens Straßen sterben täglich 377 Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalls1, eine Zahl, die dem täglichen Absturz einer Boeing 747 in durchschnittlicher Besetzung entspricht. Die Liste der Städte mit den meisten tödlichen Verkehrsunfällen wird angeführt von Neu Delhi, dicht gefolgt von Chennai auf Platz zwei2. Während anzunehmen ist, dass ein täglicher Flugzeugabsturz dieses Formats einen erheblichen Einbruch des Luftverkehrs verursachen würde, kann man dies vom Straßenverkehr nicht behaupten. Selbst in Thiruvallur bewegt man sich während der Rush Hour höchstens in Schrittgeschwindigkeit fort.
Die Gründe dafür sind vielseitig, viel spricht jedoch aus meiner Sicht für eine mangelnde Fahrausbildung der meisten Verkehrsteilnehmer. Wer in Thiruvallur eine Fahrerlaubnis erhalten möchte, übt auf einer wenig befahrenen Straße und beweist anschließend vor den Augen eines Prüfers seine Fähigkeit, sein Fahrzeug zu bedienen. Dies besteht meist in der Aufgabe, auf einem Prüfungsgelände geradeaus zu fahren und abzubiegen. Überhaupt, wozu benötigt man einen Führerschein, wenn diesen in Thiruvallur niemals jemand zu kontrollieren verlangt? Immerhin kostet eine Fahrprüfung auch in Indien Geld.
Potenziell tödlich ist Chennais Verkehr jedoch nicht nur durch seine Unfallgefahr. Nicht umsonst binden sich viele Verkehrsteilnehmer vor Verlassen des Hauses ein Tuch vor Mund und Nase. Wer den ausgestoßenen Gasen und Rußpartikeln zu lange ausgesetzt ist, wird bei Ankunft am Ziel mit einer schwarzen Schicht überzogen sein. Die Situation im Inneren der Lunge liegt jenseits jeder Vorstellung.
An Lösungsansätzen mangelt es Chennai nicht. Die Stadt setzt große Hoffnungen in die sich im Bau befindliche Metro, die nach ihrer Fertigstellung die Straßen entlasten soll. Ein Prestigeobjekt, gemacht für den Teil der Gesellschaft, der zurzeit noch in seinen Marutis, VWs und Fords über die verstopften Straßen flucht, sprich: die obere Mittelschicht. Der Erfolg des Projekts bleibt abzuwarten; klar ist jedoch: Thiruvallurs täglicher Stau, bestehend aus Motorrädern, Autorickshaws und Bussen wird noch eine Weile bestehen bleiben. Also begeben wir uns weiterhin täglich in die Höhle des Löwen, sei es um die Straße vor unserem Haus  zu überqueren. Und irgendwie haben wir letztendlich doch immer überlebt.
 
 

Dienstag, 2. Februar 2016

Putiya


…ist das tamilische Wort für neu. Neu war in den letzten zwei Wochen vieles.

Einmal im Jahr findet in der Region Chennai ein von Hyundai gesponsertes Camp statt. Zu diesem Zweck kommen etwa 200 koreanische Studenten nach Indien, um in den hiesigen Dörfern Schulen zu renovieren, Toiletten zu bauen oder Unterricht zu geben.

Verantwortlich für die Organisation dieses Camps ist FSL India, was mir die Chance bot, daran ebenfalls teilzunehmen. Insgesamt 14 Tage lang renovierten mein Team und ich die Grundschule des Dorfes Sengadu, einen trostlosen Komplex mit verwahrlostem Schulhof und kaputten Wasserhähnen.  Hätten wir die Veränderung nicht jeden Tag selbst mit verfolgt; es wäre nicht zu glauben gewesen, dass es sich bei dem Ort, den wir zu Ende der zwei Wochen verließen, um dieselbe Schule handelte. Die Wände hatten Farbe und bunte Zeichnungen erhalten, vor dem Hauptgebäude erstreckte sich eine breite Fläche zum Spielen frei von Müll, Backsteinen oder Löchern, und die Wasserhähne funktionierten einwandfrei.

Ich bin dennoch der Ansicht, dass der eigentliche Zweck des Camps nicht die Renovierung selbst ist. Es ist lernen. Südkorea war für mich lange ein Land, das auf der Weltkarte existierte, dessen Hauptstadt ich kannte und dessen Geschichte ich in meiner Schulzeit kurz behandelt hatte. Ich wusste nichts über das dortige Leben, womit Studenten dort ihre freie Zeit verbringen, was sie bewegt, worauf sie hoffen. Im Gegenzug kannten viele meiner koreanischen Mitfreiwilligen  Indien nur aus Erzählungen anderer. Ich fühlte mich in manchen Situationen stark an meine eigenen ersten Tage hier erinnert. Wenn ich ungläubig gefragt wurde, wie man hier mit dem Linienbus fahren könne, dachte ich daran zurück, wie ich diese Frage in meiner ersten Woche selbst gestellt hatte. Deutschland kannten viele jedoch überraschend gut. „Sprichst du Deutsch?“ fragte mich unsere koreanische Teamleiterin in astreiner Aussprache am ersten Tag. Die nächste Frage war: „ Do you know Schweinshaxe?“, gefolgt von „I have been to Heidelberg!“.

Ich danke meinen koreanischen Mitfreiwilligen für zwei sehr interessante Wochen! Als mich mein Team im Office fragte, was ich aus dem Camp gelernt habe, war meine Antwort: „Eine Menge Neues.“

Dienstag, 19. Januar 2016

Pongal


… ist eine Art Erntedankfest, das am vorigen Wochenende von den hinduistischen Familien gefeiert wurde. Es dient dazu, dem Sonnengott Surya für das Wachstum der Pflanzen zu danken und leitet zugleich das neue Jahr ein. Wie bei jedem festlichen Anlass darf die Familie selbstverständlich nicht fehlen.

Freitag, 15.1.2016,Hauptfeiertag

7 Uhr: Ich werde von lautem Geschrei geweckt, gepaart von gelegentlichem Hämmern an meine Zimmertür. 3 Kinder, zwei, vier und sieben Jahre alt, können nicht verstehen, wie man an einem solchen Tag auch nur daran denken kann, auszuschlafen

9 Uhr: Inzwischen sind alle wach, die Kinder springen auf dem Sofa und schreien um die Wette: „Pongal! Pongal!“ Währenddessen wird der Hausaltar vorbereitet: Götterbilder sowie Öllampen erhalten Punkte aus rotem Kumkum Puder, auf einem Bananenblatt wird davor das Festessen ausgebreitet. Es gibt, wie könnte es anders sein, Pongal, ein traditionelles Reisgericht, das sowohl in süßer als auch in herzhafter Ausführung existiert.

Mittag: Die Familie macht sich auf den Weg zur Dachterrasse, zwei Bambusstöcke, einen Teil des Essens sowie eine Öllampe und eine Glocke im Schlepptau. Man sucht eine geeignete Stelle, die gründlich gesäubert und mit einem Kolam versehen wird. Die Bambusstöcke bilden darüber ein Dreieck. Dies ist der Höhepunkt des Festes: Das Gebet an Surya, der sich jedoch an diesem Tag hinter einer Wolke Smog nur erahnen lässt. Die Lampe wird dreimal im Uhrzeigersinn im Kreis bewegt, dazu läutet man die Glocke um Gott auf das Geschehen aufmerksam zu machen. Surya aber verweilt hartnäckig hinter seiner Wolke.

13 Uhr: Zurück in der Wohnung werden Bananenblätter verteilt, man lässt sich zum Mittagessen nieder. Die Speisen wurden zuvor  im Gebet von Gott gesegnet.

Nachmittag: Nach einem kollektiven Mittagsschlaf wird ausgiebig Fernsehen geschaut, während die Zweijährige unsere Fußmatte mit dem Nagellack meiner Gastschwester verziert. Diese jedoch ist von dem entstandenen Kunstwerk wenig begeistert, was der Kleinen eine Schimpftirade einbringt.

18 Uhr: Ich spiele mit dem Siebenjährigen Ball, als meine Gastmutter mit einer Schaufel gerösteter Erdnüsse hereinkommt. Er hätte sie nicht besser treffen können; die Erdnüsse fliegen durchs Zimmer.

19 Uhr: nach einem schnellen Abendessen machen wir uns auf den Weg ins örtliche Kino um uns den neuesten Tamil Film anzusehen. Das Publikum fiebert mit; bei besonders spannenden Stellen wird gepfiffen, gejohlt und Beifall geklatscht.

Als wir kurz nach Mitternacht wieder zu Hause ankommen, fallen wir müde und glücklich ins Bett.

P.S.: Ich wünsche allen Lesern dieses Blogs ein schönes neues Jahr 2016!