Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Montag, 23. Mai 2016

Tērtal

…ist das tamilische Wort für Wahl. Eine solche fand voriges Wochenende in Tamil Nadu statt. Es ging um den Posten des Chief Ministers und die Entscheidung fiel zwischen den beiden Hauptparteien des Staates DMK (Draavida Munnetra Kazhagam), und AIADMK (All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam).
Bis dato wurde Tamil Nadu von Jayalalitha, bekannt unter dem Spitznamen Amma (Mutter) und Vorsitzende der AIADMK, regiert. Nicht nur Deutschland hat Mutti. Als ehemalige Schauspielerin und Geliebte des verstorbenen Chief Ministers M.G. Ramachandran besaß sie schon vor ihrer Politikerkarriere einige Berühmtheit. Seit Beginn ihrer Regierungszeit ziert ihr Gesicht Wände in ganz Thiruvallur sowie diverse Gegenstände, von Ventilatoren bis zu Trinkwasser, die billiger sind als ihre Vergleichsprodukte.
Der Beginn des Wahlkampfs war schon vor Monaten zu spüren. Ich erinnere mich, wie meine Gastschwester mit drei Flachbildfernsehern und ebenso vielen Ventilatoren sowie Reismühlen hereinkam und erklärte, dass dies Wahlgeschenke von Jayalalitha seien. Weil jedes Familienmitglied dreifach als Wähler registriert ist, gibt es die dreifache Menge an Haushaltsgegenständen. In ihrer Lebensdauer unterscheiden sich diese jedoch nicht sonderlich von dem obligatorischen Kugelschreiber, der in Deutschland vor Wahlen gerne verteilt wird: Sie beschränkt sich meist auf ein paar Monate. Die dreifache Registrierung, zu verdanken drei verschiedenen Wohnorten, ginge theoretisch auch mit einer dreifachen Anzahl an Stimmen einher, wäre da nicht die wasserfeste Tinte, die den Zeigefinger jedes Wählers ziert und deren Lebensdauer mehrere Wochen beträgt.
Zeitgleich mit dem Wahlkampf tauchten auch die ersten Anti-Korruptionsplakate auf. (Ich habe noch immer nicht herausgefunden, wer für sie verantwortlich ist. Es wäre pure Ironie, stammten sie von der Regierung selbst.) Tatsächlich ist es eine weit verbreitete Praxis in den Morgenstunden, die auch Einbrecher gerne nutzen, da die Menschen häufig nicht zu Hause sind, 2000-5000 Rupien durch den Türschlitz zu schieben. Natürlich Anonym. Dennoch: Die Parteien wissen wer sie wählt. Und die Wähler, wer sie besticht.

Letzte Woche wurde Jayalalitha schließlich für eine weitere Amtszeit gewählt; ein Ergebnis, das mich in Anbetracht ihres Verhaltens während der Überflutungen überraschte. Mein Freund begründete es jedoch so: „Immerhin hat sie keine offene Mordanklage.“ Na dann. Und ein Gutes  hat ihre Wiederwahl doch: Es wird weiterhin an den Busstationen Tamil Nadus billiges Amma-Wasser zu kaufen geben. Irgendwo sind wir alle bestechlich. 

Dienstag, 17. Mai 2016

Kaadal

…ist das Tamilische Wort für Liebe. Mein Jahr in Chennai neigt sich dem Ende zu und wird in ein paar Wochen nahtlos in ein Studium von Politikwissenschaft, Englisch und Geschichte an der Christ University in Bangalore übergehen. Selbstverständlich wird dieser Blog auch in der neuen Umgebung weitergeführt. Dennoch: Es ist Zeit für eine Liebeserklärung.
Wie bei jeder echten Liebeserklärung weiß ich nicht, wie ich sie beginnen soll. Es gab eine Zeit, als all meine Mitfreiwilligen aus Sriperumbudur in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren und ich an den Wochenenden plötzlich alleine war. Während dieser Zeit lernte ich eine Stadt lieben, die alles, was ich je zuvor für andere Orte der Welt empfunden hatte, wie reine Kindergartenschwärmerei erscheinen ließ. Ich kannte Chennai seit Beginn, doch erst als ich es Wochenende für Wochenende zu Fuß (die denkbar schlechteste und doch interessanteste Art) erkundete, funkte es zwischen uns. Verliebte ich mich. Begann ein Gefühl untrennbarer Zusammengehörigkeit. Wurde mir klar, wie viel ich für die Stadt empfand.  Hach, Liebe ist kompliziert.
Chennai ist bei den meisten Indern, wie auch Freiwilligen verhasst und das mit gutem Grund. Verglichen mit dem modernen und hippen Bangalore erscheint die Stadt, in Phänotyp, wie in Mentalität,  wie ein übergroßes Dorf. Chennai ist heiß, staubig, konservativ, hart und stinkend, oder, wie einer meiner indischen Freunde es gerne ausdrückt, „in your face.“ In Chennai herrscht Alkoholverbot, wer versucht, sich mit einem Inder im falschen Hotel ein Zimmer zu nehmen, wird wegen Prostitution auf die Polizeiwache gebracht und wer erwartet, dass ein Autorickshawfahrer das Taxameter einschaltet, sollte seinen Sinn für Realität überprüfen.
Zur gleichen Zeit ist Chennai wunderschön, es repräsentiert alle Schichten der indischen Bevölkerung, es ist beeinflusst von Dubai, den USA, Singapur, England und Mumbai zugleich, es ist geprägt von tamilischem Stolz, und es herrscht eine Atmosphäre, die selbst seine härtesten Kritiker als familiär bezeichnen. Chennai ist sympathisch, es ist Familie, Zuhause. Chennai befindet sich in einer Umbruchsphase, in der noch nicht entschieden ist, wohin die Reise geht. Alles scheint möglich.
Chennai hat den St Thomas Mount, der einen grandiosen Blick über die Start- und Landebahnen des internationalen Flughafens bietet; Chennai hat Besant Nagar, das zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes Persönlichkeiten wie Annie Besant und Rukmini Devi ein Zuhause bot und noch heute den Garten der Theosophischen Gesellschaft, sowie die Kalakshetra Foundation für traditionellen Tanz beherbergt. In Chennai findet man das alte Bazaarviertel Georgetown, in dem  von Weihnachtskarten bis zu Glycerin alles zu haben ist und ein paar Kilometer weiter die Phoenix Market City, in der die Oberschicht Klamotten von Chanel shoppt. Das im Stadtteil Royapettah befindliche Sathyam Theatre behandelt reiche Jugendliche, die sich mit ihren 300 Rupien Karten auf die guten Plätze setzen genauso, wie Straßenkinder mit einer 10 Rupien Karte für den Rand der ersten Reihe. Es gibt nichts Besseres als im zäh fließenden Verkehr am Abend aus dem Fenster eines Busses von Koyambedu nach Adyar zu schauen und einen Blick auf den erleuchteten Gandhi Mandapam, den Campus der Anna University, die Schaufenster der Läden, die die Straße säumen und die verschiedenen Verkehrsteilnehmer selbst zu werfen.

Meine Liste, warum ich Chennai liebe ist endlos. Ich werde Indien nicht verlassen, doch der Abschied von Tamil Nadu fällt mir schwer. Ich werde regelmäßig von verschiedenen Indern ausgelacht, wenn ich sage, dass ich mir in Karnataka wie ein Tamile vorkomme. Der Staat und Chennai insbesondere, bieten mir ein Gefühl von zu Hause, wie ich es anfangs nicht für möglich gehalten hätte. Mir bleibt nur eins zu sagen: Chennai, naan unnai kaadalikkiren. Rompa rompa nandri. Ich liebe dich. Danke für alles. 

Montag, 9. Mai 2016

Ratham

…ist das tamilische Wort für Blut. Ich möchte diesen Beitrag mit einer kurzen Geschichte eröffnen. Vor ein paar Monaten bereitete sich mein Gastvater auf eine Pilgerfahrt nach Kerala vor, das Ziel ein Tempel, zu dem nur Männer Zutritt haben. In den elf Tagen vor Aufbruch mussten im Haus besondere Regeln der Reinheit eingehalten werden. An einem Sonntagabend während dieser Zeit kehrte ich müde und erschöpft von einer Reise zurück. Meine Gastschwester empfing mich an der Tür. „Hast du deine Periode?“, war die erste Frage, die sie mir stellte. Etwas überrascht antwortete ich mit einem wahrheitsgemäßen „Ja“, worauf sie mir eröffnete, dass ich die nächsten drei Tage die Wohnung nicht zu betreten habe. Ich ließ durchblicken, dass mich diese Aussicht, auch in Anbetracht der späten Uhrzeit, nicht sonderlich begeisterte, sodass sich meine Gastschwester schließlich ein Herz fasste und mir gestattete, falls die ersten drei Tage bereits vorüber seien, in meinem Zimmer zu übernachten.

Menstruation ist in Indien eines der sensibelsten Themen, die in der Gesellschaft existieren. Seine volle Tragweite wird mir erst bewusst, nachdem mich mein Projekt gebeten hatte, ein Aufklärungsprogramm darüber zu erstellen. Während selbst meine relativ moderne Familie bereit war, mich ungeachtet aller Sicherheitsrisiken drei Tage lang nicht in die Wohnung zu lassen, sieht die Situation auf dem Land noch einmal anders aus. Manche Dörfer besitzen spezielle Hütten außerhalb der Grenzen, in die sich menstruierende Frauen während ihrer Periode zurückziehen, oft alleine und ohne Küche oder Toilette. Sie verlassen sich auf die übrigen Frauen der Familie, um etwas zu essen zu bekommen. Selbst in modernen Familien in der Stadt dürfen Tempel, Küche oder Gebetsraum nicht betreten werden. Während der Pongal Feierlichkeiten konnten zwei meiner Gastschwestern nicht am Gebet teilnehmen, weil sie ihre Periode hatten.

Dazu kommt die geringe Verfügbarkeit von Hygieneartikeln auf dem Land. Damenbinden sind verhältnismäßig teuer und für viele Dorfbewohner unerschwinglich. Man behilft sich mit Papier, Blättern und Sand. Die Bildung vieler Mädchen endet mit Einsetzen ihrer Periode, da die Schule während dieser Zeit nicht besucht werden kann. Die verpassten Unterrichtsinhalte aufzuholen, ist für viele nicht möglich.

Vor nicht allzu langer Zeit, besuchten wir eine Familie, deren dreizehnjährige Tochter uns stolz die Bilder ihrer Puberty Function zeigte. Es handelt sich um ein traditionelles Fest in Tamil Nadu, das die erste Periode eines Mädchens feiert. Bevor die indische Regierung Hochzeiten unter achtzehn für illegal erklärte, gab man damit bekannt, dass eine Tochter nun im heiratsfähigen Alter sei. Während des Festes erscheint das Mädchen in den Kostümen verschiedener Götter, sowie in ein paar zusätzlicher seiner Wahl. Japanische Geishas und viktorianische Prinzessinnen sind nicht unüblich. Während besagte Feier auf dem Land selbstverständlich durchgeführt wird, ist sie in den Internetforen der Städter umstritten.

„What should I tell them? Welcome to celebrate the stain on my undergarment?“ twitterte eine Inderin sarkastisch. 

In besagten Foren starteten indische Feministinnen vor ein paar Monaten eine Kampagne, die es bis auf die Straßen Mumbais, Delhis und Bangalores schaffte. Unter dem Hashtag „We bleed. Let´s face it.“ demonstrierten Frauen gegen alte Traditionen und für einen offenen Umgang mit dem Thema. Recht haben sie.