Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Sonntag, 1. November 2015

Cuvar


…ist tamilisch für Mauer. Eine solche scheint in Indien stets zwischen den Geschlechtern zu stehen.

Wer in den letzten Jahren die Nachrichten verfolgt hat, kennt den Fall der vergewaltigten Studentin aus Neu Delhi, der ein trauriges Licht auf die Situation von Indiens Frauen warf. Was für eine Realität hinter diesen Schlagzeilen steht, habe  ich seit meiner Ankunft oft genug erfahren. Ich möchte hier drei Geschichten erzählen, die einer Inderin, die eines Inders und schließlich meine eigene, um diesem hier so schwierigen Thema etwas näher zu kommen.

Meine Gastschwester will nicht heiraten. Ihre Familie sucht in der Bekanntschaft, wie auf Heiratsportalen im Internet nach dem richtigen Mann für sie, dem Mann, dessen Horoskop mit ihrem zusammenpasst, der einen guten Job hat und viel Geld verdient und obendrein auch noch gut aussieht. Dem Mann, den sie vor der Hochzeit nur ein paar Male treffen wird, der ihr vielleicht ihre gesamte Freiheit nehmen wird und den sie vielleicht nie lieben wird, der eventuell aber auch der richtige Partner fürs Leben sein könnte. Sie weiß es nicht, kann es nicht wissen. Daher kämpft sie wie eine Löwin darum, diese Ehe nicht eingehen zu müssen. Die Liebe in der arrangierten Ehe scheint ein Traum zu sein, der schon seit langem aufgegeben wurde.

Mein indischer Mitarbeiter hat mehr Glück. Seine Freundin lebt in Bangalore, er liebt sie und trifft sie wann immer er kann. Das Paar plant zu heiraten, mit dem Segen beider Familien, obwohl sie verschiedenen Religionen angehören. Er ist stolz auf seine Freundin und erzählt gerne von ihr, wie auch von den Partys, die er jedes Wochenende besucht und auf denen getanzt wird. Umso erstaunter war ich über seine plötzliche Verlegenheit, als ihn eine spanische Freiwillige aus Spaß zum Tanz aufforderte. „Actually, I never danced with a girl“, erzählte er mir später. “I didn´t tell you that at our parties, there is only boys.”

Ich als Europäerin habe bei dem Thema eine wieder andere Rolle. Auf meinem Weg durch Thiruvallur schreien mir täglich junge Inder von ihren Motorrädern aus anzügliche Sprüche hinterher. Es  kann passieren, dass in dicht gedrängten Mengen, etwa in überfüllten Bussen, plötzlich eine Hand auftaucht, deren Besitzer man nicht zuordnen kann und von der man an Stellen berührt wird, an denen man nicht berührt werden möchte.  In Chennai stelle ich manchmal fest, dass ich von unbekannten Männern verfolgt werde, sie stehen am Bahnsteig neben mir, laufen mit mir mit und starren mich an. Ich bin sehr dankbar für die Existenz der Ladies Compartments in den Regionalzügen, aber es ist traurig, dass sie nötig sind. Die Situation verändert einen, sie führt zu einem Grundmisstrauen gegenüber jedem. Zu entscheiden, wann dieses  tatsächlich angebracht ist und wann nicht, ist nicht immer möglich. So sehr ich Indien liebe, der Umgang der Geschlechter miteinander ist die größte Herausforderung, der ich mich hier stellen muss.

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