Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Mittwoch, 5. Juli 2017

HMT

Ich fand sie während eines Spaziergangs mit einem Freund, in einem unscheinbaren Uhrengeschäft in Uttarakhand. Sie schien auf den ersten Blick nichts Besonderes zu sein, stach im Vergleich zu den teils sehr schrillen Exemplaren neben ihr nicht heraus. Im Gegenteil; sie war umgeben von jener Atmosphäre, die oft bodenständigen und auf Praxis ausgelegten Gegenständen anhaftet. Umso stärker erschien der Kontrast zwischen ihrer äußeren Erscheinung und dem Namen, den man ihr gegeben hatte: HMT Kohinoor, benannt nach einem der größten Diamanten der Welt, der heute die Imperial State Crown in den Britischen Kronjuwelen ziert.
Ihre Herstellerfirma, HMT, hatte ursprünglich wenig mit der Produktion von Armanduhren zu tun. Die Abkürzung steht  für Hindustan Machine Tools und die Firma war als indischer Staatsbetrieb ein Kind des Sozialismus unter Jawaharlal Nehru. Ihre ursprüngliche Bestimmung war die Herstellung von Maschinen für Indiens wachsenden Industriesektor.
1961 beschloss Premier Nehru, dass jeder Bürger seines Landes stets die aktuelle Uhrzeit kennen sollte; zu seiner Zeit eine Maßnahme um die Pünktlichkeit von Arbeitern zu verbessern. HMT begann im selben Jahr in Bangalore mit der Produktion billiger, aber langlebiger Armbanduhren,die schnell in der indischen Bevölkerung an Popularität gewannen. Bis in die neunziger Jahre bildeten HMT Uhren einen erheblichen Bestandteil aller in Indien verkauften Zeitmesser und erwarben einen Kultstatus, der bis heute besteht. Indische Regierungsangestellte bekommen unter Vorlage eines gültigen Ausweises selbst in 2017 30%Rabatt auf alle Modelle.
Mit der wirtschaftlichen Öffnung in den 90er Jahren begannen die Verkaufszahlen zu sinken, sodass HMT schließlich in 2016 komplett geschlossen wurde. Die Armbanduhren sind jedoch online und in der ehemaligen Fabrik in Bangalore noch immer erhältlich - und manchmal findet sich ein Exemplar in einem unscheinbaren Straßenladen, gebraucht, oder seit seiner Produktion unverkauft.
Wir hatten letztendlich Zweifel an der Echtheit der von uns entdeckten HMT Kohinoor und gingen unserer Wege, doch die Erinnnerung an drei Jahrzehnte indischer Geschichte, die diese Uhr beherbergte, blieb uns noch lange im Gedächtnis. 

Dienstag, 28. Februar 2017

Jana Gana Mana

…ist der Titel der indischen Nationalhymne. Übersetzt bedeutet er in etwa „Herrscher über den Geist des Volkes“.
Das Lied stammt von dem indischen Dichter Rabindranath Tagore und entstand während des Unabhängigkeitskampfes. Es ist in Bengali verfasst und rühmt das Mutterland, dessen Lob aus den Herzen der Menschen aller indischen Regionen spricht.
Seit Ende letzten Jahres existiert in Indien ein Gesetz, das Kinobetreiber verpflichtet, die Hymne vor jedem Film zu spielen. Dabei müssen die Türen geschlossen sein, damit es nicht möglich ist, durch Kommen und Gehen das Lied zu entehren und jeder Kinobesucher ist verpflichtet, aufzustehen. Auf dem Bildschirm wird der Text vor dem Hintergrund der indischen Flagge gezeigt.
Ziel des Gesetzes ist, ein Gefühl des Patriotismus zu fördern, welches laut dem indischen Supreme Court beinhaltet, die Flagge und die Nationalhymne zu respektieren. Ein solches Gesetz existierte bereits in den Zeiten des Kriegs mit China, wurde jedoch später wieder aufgehoben, da die meisten Kinobesucher die Hymne ignorierten und behielt nur in Goa und Maharashtra Gültigkeit. Dass es als Antwort auf die Situation in Kashmir wieder indienweit eingeführt wurde, spricht eine eindeutige Sprache.
Mit der Einführung der Nationalhymne vor Kinofilmen gelangte der Fall eines gehbehinderten Herren an die Öffentlichkeit, der in einem Kino von einem Paar misshandelt wurde, da er während der Hymne nicht aus seinem Rollstuhl aufstand. Das Resultat war ein Urteil des Supreme Courts, dass wer nicht in der Lage ist, zu stehen, nicht aufstehen muss. Diese Situation führt eine gewisse Ironie vor Augen. Die Nationalhymne entehrt jedoch nicht nur, wer sich nicht von seinem Sitz erhebt, sondern auch wer auffallend falsch singt oder, ein Beispiel des Supreme Courts, den Text auf „unangemessene Objekte“ (darunter fallen auch Pappteller) druckt.
Das erste Mal erlebte ich Jana Gana Mana im Kino, als ich mir den Tamilischen Actionfilm „Singam 3“ anschauen wollte. Als ich den Kinosaal betrat, krähte ein kleines Mädchen in der Reihe hinter mir bereits fröhlich den Text der Hymne. Als schließlich die indische Flagge auf dem Bildschirm erschien, erhob sich das Publikum feierlich und sang mit der Hand auf dem Herzen. Ich muss bei allem Respekt zugeben, dass ich mir mit Mühe das Lachen verbiss angesichts der ernsten und konzentrierten Stimmung kurz bevor Actionheld Surya als Polizist Durai Singam mit beachtlichen Fähigkeiten im Nahkampf einen Gangster jagte. In meiner Erfahrung wurden Nationalhymnen nur bei internationalen Events oder wichtigen Staatsereignissen gespielt, was in meinen Augen definitiv zur Komik der Situation im Kino beitrug.

Bisher scheint sich das Gesetz zu bewähren und wird trotz Kritik von vielen Indern ernst genommen. Auf mich hatte es trotz eines gelegentlichen Gefühls der Ironie immerhin die Auswirkung, dass ich den Text nun sicher auswendig kann. Wer weiß, wo ich ihn in Zukunft noch brauchen werde…

Donnerstag, 9. Februar 2017

Bharat Mata

…ist eine Göttin, die die indische Nation verkörpert. Ihr Name bedeutet übersetzt „Mutter Indien“.  Sie ist eine energische Dame, inspiriert von Göttin Durga. Man findet sie meist im safran-farbenen Sari, die indische Flagge in der rechten Hand haltend und in Begleitung eines Löwen. Ihr hinduistisches Vorbild führt bis heute zu heiklen Debatten über Hindu Vorherrschaft und Säkularismus und macht sie damit zu einem umstrittenen Symbol für indisches Nationalgefühl.
Was man unter letzterem zu verstehen hat, wird regelmäßig (wenn auch zuweilen unfreiwillig) von meinen Mitstudenten und Professoren verdeutlicht. Während der Vorlesungen fällt erstaunlich oft die Bezeichnung „our nation“ für Indien mit dem Zusatz wie stolz man auf diese sei. Bedeutende Führungsfiguren des indischen Unabhängigkeitskampfes erscheinen in Präsentationen mit Ehrentitel statt mit Namen und werden von den jeweiligen Referenten gegen jeden Zweifel verteidigt. Kritik an Indien gleicht einer handfesten Beleidigung.
Auf die Frage hin, worauf man denn besonders stolz sei, kommt oft die Antwort: „auf unsere multikulturelle Gesellschaft“, gefolgt von einem Lob für das Militär an zweiter Stelle. Dieses Meinungsbild wird repräsentiert von der indischen Tageszeitung „The Hindu“. Während der „chirurgischen Schläge“ gegen Pakistan nach der Attacke auf die Stadt Uri im indischen Teil Kaschmirs, wurden gefallene indische Soldaten als Helden gefeiert. Eines Tages stieß ich im „Hindu“ auf die Anzeige einer Bank, gespickt mit Bildern indischer Panzer, Kampfjets und Maschinengewehre, die „chirurgische Schläge gegen finanzielle Sorgen“ versprach.
Des Weiteren manifestiert sich indischer Nationalismus in traditionellen Festen sowie im Gespräch über die hinduistischen Epen Mahabharata und Ramayana. Mir als Ausländer werden ebenjene Geschichten gerne mit Stolz erzählt, unter Hervorhebung ihrer 2000 Jahre alten Tradition und unabhängig davon ob sie mir bereits im Detail bekannt sind oder nicht. Während hinduistischer Feiertage wird eine Menge Wert darauf gelegt, sie zu begehen, mit der Begründung die eigene Kultur wert zu schätzen, auch wenn viele dieser Feste, zumindest in der sozialen Schicht, die mit mir studiert, in den letzten Jahrzehnten den kapitalistischen Touch einer Konsumgesellschaft erhalten haben wie es mir scheint. Zuweilen gehört der Kauf teurer Markenklamotten vor selbst weniger wichtigen Feiertagen ebenfalls zu einer Form des kulturellen Nationalismus (dies gilt jedoch nicht für jede gesellschaftliche Schicht Südindiens).
Indisches Nationalgefühl als Konzept stammt aus den Anfängen des indischen Nationalkongress, der versuchte, die unter Britischer Herrschaft stehenden Fürstentümer für den gemeinsamen Kampf gegen den Kolonialismus zu gewinnen. Zur selben Zeit begann die Popularität von Bharat Mata, sowie der Kuh als Mutterfigur der Nation. Eine Professorin für indische Geschichte verdeutlichte einmal, dass beide als nationalistische Propaganda perfekt seien: sie verkörpern sowohl das Bild einer lokalen Gottheit, als auch das Konzept von mütterlichem Schutz, beides vor allem im ländlichen Indien sehr familiäre Gedanken.

Ich würde zu Ende dieses Artikels die Aufmerksamkeit gerne auf den Ausdruck „Bharat“ legen, der die erste Hälfte des Namens Bharat Matas bildet. Der Ausdruck entstammt den Puranas, Jahrtausende alten Sanskrit Schriften, die Indien nach dem Monarchen Bharata als Bharatavarsha (Land Bharatas) bezeichnen. Man bemerke hierbei den hinduistischen Ursprung des Wortes. Es wird demnach gerne von hindu-nationalistischen Gruppierungen zur Propaganda genutzt. Hier wird ein Problem deutlich, das mit indischem Nationalstolz Hand in Hand geht: Sollte Indien eine reine Hindu-nation sein oder feiert man „unity in diversity?“ Wer ist Inder, wer nicht? Was ist indisch, was nicht? Es ist eine Frage, die gerne debattiert, aber nie klar beantwortet wird. Ganz einfach weil es keine Antwort gibt.