Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Sonntag, 29. November 2015

Aadi Anant


… ist nicht tamilisch, sondern Sanskrit und bedeutet „von hier in die Ewigkeit“. Es ist zugleich der Titel einer Konzertreihe, die zurzeit in verschiedenen indischen Großstädten, darunter Chennai, stattfindet.

Die klassische Musik Nordindiens basiert auf der Guru-Shishya Tradition, der Weitergabe vom Wissen eines Lehrers an seinen Schüler.  Dies geschieht seit über 1000 Jahren mündlich. Musik umfasst dabei sowohl eine weltliche, als auch eine spirituelle Ebene. In seinem Spiel sucht der Musiker Kontakt zu Gott und vergisst dabei mitunter sogar, dass er musiziert.

Im Auditorium der Chennai Music Academy trat Tabla Virtuose Usthad Zakir Hussain gemeinsam mit dem Bansuri Spieler Rakesh Chaurasia auf. Die Tabla, als Trommel traditionell eher zur Begleitung genutzt, gewinnt in der heutigen Zeit als Soloinstrument an Bedeutung.

„Willkommen meine Damen und Herren! Freuen sie sich auf ein Konzert des Meisters auf der Bansuri Flöte Rakesh Chaurasia!“, eröffnete Zakir Hussain, der eigentliche Hauptmusiker, das Konzert. Was folgte, lässt sich am ehesten mit dem Wort „UNGLAUBLICH“ beschreiben. Die Darbietung bestand aus drei Kompositionen mit jeweils Raum für Improvisation. Rakesh Chaurasia eröffnete das Konzert mit einem Bansuri Solo, dessen Tempo und Lautstärke sich auf ein Niveau steigerten, das dem Musiker auf einer solchen Flöte wahre Virtuosität abverlangt. Der Hauptteil jeder Komposition bestand aus dem sehr energiegeladenen  Zusammenspiel beider Künstler, dem schließlich ein Tabla Solo Zakir Hussains folgte.

Ich erinnere mich an den Versuch, mit meinem Blick den Handbewegungen des Trommlers zu folgen. Es war unmöglich. Zakir Hussain gilt zudem als Meister der Improvisation, der gerne Einflüsse fremder Kulturen verarbeitet. Inmitten seines Spiels ging die Melodie plötzlich nahtlos in „Always look on the bright side of life“ über und wechselte genauso fließend wieder zu den traditionellen Rhythmen zurück, als sei nichts gewesen.

Mein Fazit? Ich habe selten ein Konzert erlebt, das den Standup am Ende mehr verdient hat als dieses. Der Abend war eine Mischung aus Tradition und Moderne, aus wahrer Kunst und gleichzeitig viel Humor. Zakir Hussain erklärte einmal, dass in seinen Stücken  das Wissen seiner Lehrer direkt zu finden sei, er aber gleichzeitig fremde Einflüsse verarbeite und seine Musik so stetig weiterentwickle. Das ist der Hauptgedanke der Guru – Shishya Tradition: Von hier in die Ewigkeit.

Montag, 23. November 2015

Male


…ist das tamilische Wort für Regen. Davon gab es in Tamil Nadu in den letzten Tagen so  viel wie in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr.

Als für diesen Winter das Wetterphänomen El Niño vorhergesagt wurde, hatte mich die Nachricht wenig beeindruckt. Was war schon eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Zyklone im indischen Ozean?

Fünf Zyklone und eine Tsunamiwarnung später wird mir bewusst, worauf man sich bei einer solchen Vorhersage einzustellen hat. Chennai befindet sich zurzeit auf Tauchgang. In manchen Straßen steht das Wasser knietief, in anderen wiederum hüfthoch-abhängig von der Lage des jeweiligen Stadtteils. Die Schulkinder freuen sich über mindestens zwei Wochen „Regenfrei“ und auch ich hatte einigen zusätzlichen Urlaub, als sich das Treppenhaus unseres Büros spontan in einen Wasserfall verwandelte.

Während ich jedoch das Glück habe, im hoch gelegenen Thiruvallur zu wohnen, sah es bei meinen zwei Mitfreiwilligen noch einmal anders aus: Nachdem in ihrem Dorf der Damm geöffnet wurde, war es ihnen für eine Woche nicht möglich, das Haus zu verlassen, da an Stelle der Straße nun ein Fluss zu finden war. Der örtliche See kam so weit über die Ufer, dass man in ihrem Garten hätte fischen können.

Es ist jedoch ein Irrtum, zu glauben, dass sich durch das Wetter der Straßenverkehr in Chennai nennenswert reduziert hätte. Kommt in der Flut ein sitzender Mann vorbei, liegt die Vermutung nahe, dass sich unter ihm auch irgendwo ein Motorrad befindet, welches aber unter dem Wasser nicht mehr sichtbar ist.

Die Bilanz der letzten Wochen: 120 Tote und weiterhin teilweise starke Regenfälle und Überschwemmungen. Und eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass solche Winter bald häufiger vorkommen werden. Hallo Klimawandel, wir kommen!

Sonntag, 1. November 2015

Cuvar


…ist tamilisch für Mauer. Eine solche scheint in Indien stets zwischen den Geschlechtern zu stehen.

Wer in den letzten Jahren die Nachrichten verfolgt hat, kennt den Fall der vergewaltigten Studentin aus Neu Delhi, der ein trauriges Licht auf die Situation von Indiens Frauen warf. Was für eine Realität hinter diesen Schlagzeilen steht, habe  ich seit meiner Ankunft oft genug erfahren. Ich möchte hier drei Geschichten erzählen, die einer Inderin, die eines Inders und schließlich meine eigene, um diesem hier so schwierigen Thema etwas näher zu kommen.

Meine Gastschwester will nicht heiraten. Ihre Familie sucht in der Bekanntschaft, wie auf Heiratsportalen im Internet nach dem richtigen Mann für sie, dem Mann, dessen Horoskop mit ihrem zusammenpasst, der einen guten Job hat und viel Geld verdient und obendrein auch noch gut aussieht. Dem Mann, den sie vor der Hochzeit nur ein paar Male treffen wird, der ihr vielleicht ihre gesamte Freiheit nehmen wird und den sie vielleicht nie lieben wird, der eventuell aber auch der richtige Partner fürs Leben sein könnte. Sie weiß es nicht, kann es nicht wissen. Daher kämpft sie wie eine Löwin darum, diese Ehe nicht eingehen zu müssen. Die Liebe in der arrangierten Ehe scheint ein Traum zu sein, der schon seit langem aufgegeben wurde.

Mein indischer Mitarbeiter hat mehr Glück. Seine Freundin lebt in Bangalore, er liebt sie und trifft sie wann immer er kann. Das Paar plant zu heiraten, mit dem Segen beider Familien, obwohl sie verschiedenen Religionen angehören. Er ist stolz auf seine Freundin und erzählt gerne von ihr, wie auch von den Partys, die er jedes Wochenende besucht und auf denen getanzt wird. Umso erstaunter war ich über seine plötzliche Verlegenheit, als ihn eine spanische Freiwillige aus Spaß zum Tanz aufforderte. „Actually, I never danced with a girl“, erzählte er mir später. “I didn´t tell you that at our parties, there is only boys.”

Ich als Europäerin habe bei dem Thema eine wieder andere Rolle. Auf meinem Weg durch Thiruvallur schreien mir täglich junge Inder von ihren Motorrädern aus anzügliche Sprüche hinterher. Es  kann passieren, dass in dicht gedrängten Mengen, etwa in überfüllten Bussen, plötzlich eine Hand auftaucht, deren Besitzer man nicht zuordnen kann und von der man an Stellen berührt wird, an denen man nicht berührt werden möchte.  In Chennai stelle ich manchmal fest, dass ich von unbekannten Männern verfolgt werde, sie stehen am Bahnsteig neben mir, laufen mit mir mit und starren mich an. Ich bin sehr dankbar für die Existenz der Ladies Compartments in den Regionalzügen, aber es ist traurig, dass sie nötig sind. Die Situation verändert einen, sie führt zu einem Grundmisstrauen gegenüber jedem. Zu entscheiden, wann dieses  tatsächlich angebracht ist und wann nicht, ist nicht immer möglich. So sehr ich Indien liebe, der Umgang der Geschlechter miteinander ist die größte Herausforderung, der ich mich hier stellen muss.