Alles, was wir sind, ist das Ergebnis dessen, was wir dachten
Buddha

Albatros


Stellen Sie sich vor, sie werden eingeladen in eine fremde Kultur, deren Sprache, Sitten und Gebräuche Sie nicht kennen. Ein Mann und eine Frau begrüßen Sie in einem Kreis mit Stühlen. Als Frau gibt man ihnen zu verstehen, auf dem Boden zu sitzen und Ihre Schuhe auszuziehen, während Männer auf den Stühlen bleiben. In der Mitte des Kreises brennen Kerzen. Daneben steht ein Tablett mit Bechern sowie eine Schüssel, die eine undefinierbare Masse enthält. Die Gastgeberin kniet neben dem Stuhl ihres Mannes auf dem Boden. Schließlich schaut sie ihn an, er hält seine Hand über ihren Kopf, sie vollzieht eine Art Verbeugung, die Hand wandert mit. Danach steht sie auf und vollzieht dieselbe Verbeugung vor jeder Frau im Kreis. Es wird erwartet, dass man sie erwidert. Nachdem sie zurückgekehrt ist, begrüßt der Mann die Männer durch eine andere Geste. Beide Gastgeber kehren zurück, die Frau vollzieht ihre Verbeugung nach demselben Ritual erneut. Dann läuft sie zur Mitte des Kreises, nimmt den Becher, geht herum und gibt den Männern im Kreis zu trinken. Der Becher wird im Anschluss gereinigt. Nach einer weiteren Verbeugung bekommen auch die Frauen zu trinken, im Gegensatz zu den Männern nehmen sie den Becher jedoch selbst in die Hand. Dasselbe wird mit der Schale Essen widerholt: Männer werden gefüttert, Frauen essen selbst. Nach dem Essen verabschiedet die Frau die Frauen und der Mann die Männer.

Wie würden Sie diese Szene interpretieren? Wer ist in der fremden Kultur höher gestellt, wer niedriger? Warum?

Als ich die Situation zum ersten Mal sah, war für mich klar: Männer sind ranghöher, sie werden gefüttert und müssen nicht auf dem Boden sitzen. Die Auflösung jedoch ist: Bei der fremden Kultur handelt es sich um die so genannte Albatroskultur, in der der Boden heilig ist, da er lebensnotwendige Früchte hervorbringt. Nur Frauen als dem lebensspendenden Teil der Menschheit ist es erlaubt, ihn direkt zu berühren. Dies geschieht vor allem in Form der Verbeugung, bei der Männer die Möglichkeit haben, an der Berührung teilzuhaben, indem sie ihre Hand über den Kopf ihrer Gattin halten. Ansonsten muss ein Mann Schuhe tragen und auf einem Stuhl sitzen um Kontakt mit dem Boden zu vermeiden. Da jede Nahrung eine Frucht der Erde ist, haben nur Frauen das Recht, mit ihr direkt Kontakt zu haben. Männer müssen gefüttert werden.

Ich erzähle diese Geschichte, weil ich auf etwas hinweisen will. Der Unterschied zwischen dem, was man beobachtet und der daraus folgenden Interpretation ist manchmal sehr groß. Man muss sich seiner kulturellen Brille bewusst sein, wenn man Fremdem begegnet, auch wenn diese abzulegen unmöglich ist. Ich werde in diesem Blog versuchen, möglichst die reine Beobachtung zu schildern, doch es wird mir nicht gelingen. Deshalb, liebe Leser, seien auch Sie sich dieser Tatsache bewusst.

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